Das Locken der Sirene (German Edition)
stieg aus. Er wollte sie hinaufbitten, wollte ein paar Stunden lang seinen Schmerz und die Gründe dafür vergessen. Aber er konnte es nicht, oder? Wegen Grace – obwohl es ihr nichts mehr ausmachte. Zach öffnete den Mund, doch bevor er Nora hineinbitten konnte, streckte sie die Hand aus, um die Tür zu schließen. „Sehen Sie, Zach. Ich hatte Ihnen doch versprochen, Sie zu retten.“
Nora sah, dass Zach dem Taxi noch lange hinterherschaute, bevor er sich umdrehte und in dem Gebäude verschwand. Was für ein wunderbares Wrack von einem Mann. Kingsley sagte immer, wunderschöne Wracks wären ihre Spezialität. Er musste es wissen. Er war ja selber eines.
„Wohin soll es gehen, Lady?“
Nora dachte einen Moment darüber nach. Während der nächsten sechs Wochen würden sie und Zach ihr Buch umschreiben. Wenn er morgen anfangen würde, sie anzutreiben, wäre es vielleicht kathartisch, das heute Nacht schon einmal selber zu tun.
„Lady?“, fragte er Fahrer.
Nora ratterte die Adresse eines New Yorker Stadthauses herunter und hätte beinahe gelacht, als sie im Rückspiegel den erstaunten Blick des Fahrers sah.
„Sind Sie sicher? Das ist kein Ort, an dem ein nettes Mädchen sich nach Einbruch der Dämmerung aufhalten sollte. Oder überhaupt jemals.“
Dieses Mal lachte Nora laut auf. Jeder Taxifahrer in der Stadt kannte Kingsleys Adresse. Niemand, der etwas zu verlieren hatte, würde dort jemals in seinem oder ihrem eigenen Auto vorfahren. Gut, dass sie nicht mehr zu denen gehörte, die etwas zu verlieren hatten.
Nora schaute in die Nacht hinaus. Søren würde sie vermutlich umbringen, wenn sie sich mit einem Typen wie Zach einließe. Einem Mann, der technisch gesehen noch verheiratet war. Aber Søren wütend zu machen war einfach nur ein weiterer Anreiz, es drauf ankommen zu lassen.
„Machen Sie sich keine Sorgen.“ Sie schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. Dafür, dass er sie zum Lachen gebracht hatte, würde sie dem Taxifahrer einen Hunderter Trinkgeld geben. „Ich bin kein nettes Mädchen.“
4. KAPITEL
A lles tat ihr weh. Rücken, Arme, Handgelenke, Finger, Nacken – einfach alles. Seit Jahren hatte Nora sich nicht mehr so zerschunden gefühlt. Nicht mehr seit der guten alten Zeit. Zach hatte nicht übertrieben – er war ein brutaler Lektor. Und sie hatte auch recht behalten: Er trat ihr ordentlich in den Arsch. Sie lächelte. Sie hatte ganz vergessen, wie sehr sie es liebte, in den Arsch getreten zu werden.
Sie las noch einmal die Anmerkungen durch, die Zach zu ihrem ersten Kapitel gemacht hatte. Es gefiel ihr, dass er eine ziemlich sadistische Ader zu haben schien. Natürlich konnte sie sich nicht vorstellen, wie er sie im echten Leben auspeitschte – was sie sehr schade fand. Aber er war auf jeden Fall sehr geübt darin, jemanden mit Worten zu verletzen. Er war erst seit drei Tagen ihr Lektor, und bisher hatte er sie bereits eine „Schmierenautorin“ genannt, deren Bücher „melodramatisch“, „wahnsinnig“ und „unhygienisch“ waren. Unhygienisch gefiel ihr bisher am besten.
Nora streckte gerade ihren schmerzenden Rücken, als Wesley das Büro betrat und in den Sessel sank, der ihrem Schreibtisch gegenüberstand.
„Wie geht’s mit dem Umschreiben voran?“, fragte er.
„Entsetzlich langsam. Wir sind seit drei Tagen dabei, und ich habe genau … nichts umgeschrieben.“
„Nichts?“
„Zach hat das Buch völlig auseinandergenommen.“ Nora hielt einen Stapel Papier hoch. Am Morgen nach der Buchparty hatte Zach ihr allein für die ersten drei Kapitel ein Dutzend Seiten mit Anmerkungen geschickt.
„Bist du sicher, dass dieser Typ der richtige Lektor für dich ist? Kannst du nicht mit einem anderen arbeiten?“
Nora nahm ihren Teebecher und nippte daran. Sie wollte mit Wesley lieber nicht über die aktuelle Vertragssituation reden. J. P. hatte ihr erklärt, Zach habe das letzte Wort, ob ihr Buch überhaupt veröffentlicht würde. Diesen Teil hatte sie Wesley wohlweislich verschwiegen. Der arme Junge machte sich ohnehin schon viel zu viele Sorgen um sie.
„Anscheinend nicht. John Paul Bonner hat Zach selbst förmlich anflehen müssen, damit er sich überhaupt mit mir trifft.“
Wesley zuckte mit den Schultern und verschränkte die Arme.
„Ich bin nicht sicher, ob ich ihn mag. Er war irgendwie so … ich weiß nicht …“
„Ein Arschloch? In meiner Gegenwart darfst du ruhig
Arschloch
sagen. Das steht schon in der Bibel“, erinnerte sie ihn mit einem
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