Das Locken der Sirene (German Edition)
Zach gehörte nicht hierher. „Es ist nicht fair, weißt du? Es ist irgendwie eine verquere Doppelmoral. Du lässt mich Michael haben, obwohl er erst fünfzehn ist. Aber mich hast du warten lassen, bis ich zwanzig war.“
Søren atmete langsam ein. „Das war mein Fehler.“
„Wunder geschehen – jetzt hast du allen Ernstes einen Fehler zugegeben. Worin bestand er? Mich nicht schon früher zu ficken?“
„Mein Fehler bestand darin, dass ich dachte“, er wandte sich ihr zu und erwiderte ihren Blick, „wir hätten alle Zeit der Welt.“
Noras Herz zog sich schmerzlich zusammen. Sie beobachtete Michael am anderen Ende des Raumes. Er war alles andere als ausgelassen, aber sie konnte sehen, dass seine Haltung sich verändert hatte und in seinen Augen ein Strahlen lag. Wenn sie ihn so sah, würde sie nie glauben, dass er unter den Armbändern so schreckliche Narben trug.
„Du schuldest Michael schon ein bisschen Dankbarkeit, Eleanor“, unterbrach Søren ihr melancholisches Schweigen. „Ich habe den Tag, an dem du mich verlassen hast, als den schlimmsten meines Lebens betrachtet. Der Tag, an dem ich hinten in einem Krankenwagen kniete und einem vierzehnjährigen Jungen das Sterbesakrament gab …“
„Das hat mich wohl vom ersten Platz verdrängt?“
„Vielleicht ist es einstweilen ein Unentschieden.“
„Seine Narben sehen schlimm aus. Ich kann nicht glauben, dass er das überlebt hat.“
„Es war kein vorsätzlicher Suizidversuch. Er hat ein Stück Glas zerbrochen und sich mit der Scherbe die Handgelenke aufgeschlitzt. Er hat heftig geblutet, aber nicht so stark, dass wir keine Zeit mehr gehabt hätten, ihn zu retten. Trotzdem hat der Arzt gesagt, es sei ein Wunder, dass er das überlebt hat.“
„Ich bin froh, dass er’s geschafft hat. Er ist ein süßer Junge.“
In diesem Moment schaute Michael das erste Mal in ihre Richtung. Seine silbernen Augen weiteten sich entsetzt, als er sie erkannte. Seine Haut rötete sich, und kurz huschte ein panischer Ausdruck über sein Gesicht.
„Søren …“ Nora fürchtete, Michael könne jeden Moment durchdrehen.
„Sieh einfach zu, Nora. Beobachte ihn.“
Michael blickte sie unverwandt an. Und sie tat, wie Søren ihr befahl. Mit einem Mal schloss Michael die Augen und atmete tief durch. Die Röte wich aus seinem Gesicht. Sein Körper wurde ruhig und locker. Er öffnete die Augen wieder und dann – ja, dann lächelte er sie an.
„Es geht ihm gut“, sagte Søren. „Schließlich ist er einer von uns.“
„Dir liegt sehr viel an ihm, nicht wahr?“
„Für mich ist er inzwischen wie ein Sohn.“
„Wie süß. Wie Abraham und Isaak.“
„Ich weiß, du bist immer noch sauer auf mich, weil ich dir sein Alter verschwiegen habe. Hätte es denn irgendetwas geändert, wenn ich es dir gesagt hätte? Abgesehen von dieser beeindruckenden Zurschaustellung deiner selbstgerechten Empörung?“
Nora öffnete den Mund, um zu protestieren. Aber ein Junge von etwa fünf oder sechs Jahren lief kreischend an ihnen vorbei.
„Owen!“, rief Søren. Der kleine Junge verharrte mitten in der Bewegung. „Komm her, junger Mann.“
Søren schnippte mit den Fingern und zeigte vor sich auf den Boden. Der kleine Owen kam zu ihnen zurück und stellte sich auf den angewiesenen Platz. Nora musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht laut zu lachen. Owen war mit den schwarzen Locken, die in alle Richtungen abstanden, so ziemlich das Süßeste, was sie sich vorstellen konnte.
„Ja, Father S.?“, fragte der Junge und rutschte absichtlich mit seinen Sohlen auf dem Fußboden hin und her, um das Quietschen zu erzeugen.
„Owen, schau doch mal bitte auf deine Schuhe.“
Gehorsam schaute Owen nach unten. Sein Körper sackte in sich zusammen, als er einen schweren Seufzer tat. „Hab ich vergessen.“ Flehend blickte der Kleine zu Søren auf.
„Hast du vergessen, sie zuzubinden? Oder hast du vergessen, wie es geht?“, fragte Søren.
„Ich hab vergessen, wie’s geht.“
„Eleanor? Ich glaube, das ist eher deine Aufgabe.“
„Ich werde es versuchen, aber ich bin auch ein bisschen aus der Übung.“
Nora kniete sich vor den Jungen und versuchte ihm die Häschen-Methode zu zeigen: Hasenohr, Hasenohr, über Kreuz und eins durchs Tor … Owen beobachtete sie aus seinen ernsten Augen.
„Kannst du dir das so merken, Owen?“, fragte sie und richtete sich wieder auf.
„Ich weiß nicht. Es ist so schwer. Danke.“
„Gern geschehen, Owen.“
Nora beobachtete, wie
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