Das Locken der Sirene (German Edition)
Sie erbebte in diesem ewig währenden Augenblick, in dem ein weißes geflügeltes Licht über ihre Schulter hinwegschwebte und sich irgendwo hinter ihr niederließ, wo sie es nicht sehen konnte.
Sie lächelte immer noch, als sie irgendwann spät in der Nacht einschlief.
Am nächsten Morgen wachte Nora auf, zog sich an und sammelte die paar Dinge zusammen, die sie für diesen Tag benötigte. Das Lächeln von letzter Nacht hielt noch an. Ohne Zach, ohne irgendwelche Hilfe hatte sie es geschafft, das Buch zu vollenden. Es war fertig. Es war gut. Und sie konnte es nicht erwarten, das nächste anzufangen.
Und heute Abend würden Wesley und sie auf ihr Buch anstoßen und vielleicht endlich herausfinden, was sie wegen ihnen beiden zu tun hätten. Aber zuerst musste sie noch was erledigen. Und dann musste sie jemandem ein Buch ins Gesicht schleudern.
Zach nippte an seinem Tee, schlenderte entspannt im Konferenzraum auf und ab und betrieb höflichen Small Talk mit seinen Kollegen. Die Abschiedsparty war in vollem Gange. J. P. hatte einen sehr guten Caterer engagiert. Trotzdem musste Zach einige Hänseleien einstecken, weil er J. P. nicht erlaubt hatte, für das Mittagessen drüben im Four Seasons zu bezahlen. Vor allem Mary zog ihn damit auf.
„Wir sind mitten in einer Rezession“, erinnerte Zach sie.
„Mandarinenkäsekuchen“, konterte sie.
„Die Dame hat ein gutes Argument vorgebracht“, unterbrach J. P. die Sticheleien. „Der Käsekuchen ist wirklich gut.“
Zach stellte den Tee beiseite. Er beugte sich über das Büfett, nahm einen Teller und füllte ihn mit Gourmetkäse und einem Stück Kuchen.
„Hier“, sagte er und gab J. P. den Teller. „Da habt ihr zwei euren Käsekuchen.“
Insgeheim rührte es Zach sehr, wie viele seiner Kollegen sich die Mühe gemacht hatten, zu dem Lunch zu kommen. Er wusste, dass Essen und eine Pause vom Schreibtisch und den ständig klingelnden Telefonen so ziemlich jeden zu einer Büroparty locken konnten. Aber fast alle Kollegen redeten mit ihm und wünschten ihm für seine Zeit in L. A. alles Gute. Er bedauerte es jetzt schon fast, dass er sich so sehr in seinem Kummer über Grace vergraben und so die Chance verpasst hatte, die anderen Lektoren besser kennenzulernen. Die Amerikaner waren ein ziemlich charmantes Völkchen. Selbst New Yorker, die nicht gerade für ihre Freundlichkeit bekannt waren, empfand er auf den ersten Blick als viel zugänglicher als die meisten Europäer. Er hatte beschlossen, dass Amerikaner vor allem deshalb andere Leute mochten, weil sie es nicht ertrugen, wenn irgendwer sie nicht mochte. Selbst Nora, die ihr Geld damit verdiente, zu anderen grausam zu sein, war zweifellos die bezauberndste Person, die er je getroffen hatte. Er erinnerte sich noch gut, wie eingebildet und geradezu grob er beim ersten Treffen zu ihr gewesen war und wie sie darauf mit ihrem ganz eigenen Humor und dem Versprechen reagiert hatte, für ihn noch mehr zu geben. Er schaute sich im Raum um. Sie fehlte ihm gerade sehr. Hätten sie sich nicht gestritten, wäre sie jetzt mit ihm hier, und sie würden öffentlich auf die Vollendung ihres Romans anstoßen. Und später könnten sie noch privat auf die gegenseitige Anziehungskraft anstoßen. Letzte Woche hatte er in weiser Voraussicht und voller Vorfreude darauf, mit ihr zusammen zu sein, bereits eine Flasche Wein und sogar eine Kerze gekauft. Nach den neuesten Ereignissen fühlte er sich wie ein Idiot. Schlimmer als der Verlust ihres Buches war der Verlust ihrer Freundschaft.
Die ausgelassene Stimmung der kleinen Party erlitt einen spürbaren Dämpfer, als Thomas Finley eintrat und begann, mit seinen Kollegen zu reden. Zach ignorierte ihn. Er hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und unterhielt sich mit Mary und J. P. über seine zukünftigen Projekte in L. A.
„Ich habe bisher nur wenige Drehbücher bearbeitet“, sagte er. „Und die Filmszene in Großbritannien ist ziemlich klein. In der Hinsicht wird Hollywood für mich eher abschreckend sein.“
„Das hat Faulkner auch gedacht“, sagte J. P. „Er hat in Kalifornien mit dem Regisseur Howard Hawks zusammengearbeitet und Hawks irgendwann erklärt, er könne zu Hause einfach besser arbeiten. Hawks meinte, das sei in Ordnung. Dabei hatte er wohl nicht bedacht, dass Faulkner seine Heimat Mississippi meinte. Der Mann packte seine Sachen und zog zurück nach Mississippi, um von zu Hause zu arbeiten.“
Zach und Mary lachten. J. P. tätschelte Zach die Schulter und
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