Das Locken der Sirene (German Edition)
mir das weiter?“
„Kingsley, sag mir doch einfach, was du willst, und dann lass mich in Ruhe. Mein Lektor zwingt mich im Moment, mein komplettes Buch umzuschreiben.“
„Die
Nora Sutherlin nimmt Befehle von einem Mann entgegen? Ich dachte, die Zeiten seien endgültig vorbei.“
Nora spürte, wie ihre Kiefermuskeln sich verkrampften. Sie würde sich heute auf keinen Fall mit ihm streiten.
„Ich bin
un petite peu
beschäftigt, Monsieur.“
„Für einen Kunden bist du nie zu beschäftigt. Besonders nicht für diesen Kunden.“
Nora lehnte den Kopf gegen das kühle Metall des Kühlschranks. Die meisten ihrer Kunden richteten sich nach ihrem Terminplan; sie verteilte die Termine ganz nach Gusto. Das gehörte zu dem Mysterium einer Domina. Aber es gab eine Handvoll Kunden, die selbst sie nicht warten ließ. Sie vermutete, es war wieder einmal Jake Sizemore, CEO bei einer Firma, die irgendetwas herstellte, damit die Welt sich weiterhin drehte. King sorgte dafür, dass Sizemore immer einen Termin bei ihr bekam, wenn er in der Stadt war.
„Also gut. Was muss ich wissen?“
„Zieh einfach deine besten Sachen an, und sei in einer Stunde da.
C’est ça
.“
Nora ging zurück in ihr Büro und notierte sich Uhrzeit und den Treffpunkt in ihrem Terminkalender. Sie hatte so sehr versucht, während ihrer Arbeit mit Zach keine anderen Jobs anzunehmen. Zach zeigte alle Anzeichen eines Mannes, der gerade eine ziemlich schwere Depression durchlitt. Sie kannte sich mit Depressionen aus und wusste, Depression war eine Wut, die sich nach innen wandte. Eine so starke Depression sprach für eine beeindruckende Wut, die unter dem gut aussehenden Äußeren schlummerte. Ihr hübscher blauäugiger Lektor zeigte ihr bereits jetzt bei jeder Gelegenheit seine Missbilligung. Sie konnte sich vermutlich nicht annähernd vorstellen, wie er reagieren würde, wenn er herausfand, dass das Schreiben nicht ihr einziger Job war. Seit über einem Jahr träumte sie inzwischen davon, dieses Spiel ganz bleiben zu lassen. Aber ohne einen unterschriebenen Vertrag von Royal fürchtete sie sich davor, den Job aufzugeben, der ihren Lebensunterhalt sicherte.
„Ich werde diese ganze Sache langsam leid, weißt du das, King?“
„Du sagst das, und trotzdem höre ich
la petite morte
mitschwingen. Du weißt, wie sehr du den Job liebst.“
„Ich liebe das Geld. Mehr nicht.“
„Du liebst ihn,
chérie
.“
Nora schloss die Augen und schluckte das Knurren herunter, das in ihrer Kehle lauerte.
„Er
hat damit absolut nichts zu tun.“ Nora weigerte sich, mit Kingsley über Søren zu diskutieren. Kingsley berichtete nämlich direkt an Søren.
„Ma petite“
, tadelte er sie sanft. „Du machst das doch nur, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Um ihm nahe zu sein.
C’est vrai, oui?“
„Genauso gut könntest du behaupten, Kriminelle begehen nur Verbrechen, um die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen.“
Sie hörte Kingsleys leises dunkles Lachen. „
Exactement
. In einer Stunde,
Maîtresse.“
Nora legte auf und ging in ihr Schlafzimmer. Das Haus war irgendwie zu ruhig. Sie konnte Wesley nirgendwo hören. Gewöhnlich war er zu dieser Tageszeit mit seinen Hausaufgaben beschäftigt und hörte dabei laut Musik. Oder wenn nur wenig zu tun war, spielte er Gitarre und sang leise vor sich hin. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie ihn das erste Mal beim Singen und Gitarrespielen überrascht hatte. Sie hatte ihm gesagt, er klinge ein wenig wie die Band Nelson aus den Neunzigern. „Wer sind die?“, hatte er gefragt, und Nora hatte entnervt ein Buch nach ihm geworfen.
Sie zog ihren schwarzen Lederrock mit dem langen Schlitz an der Rückseite an. Dazu das Korsett aus schwarzem und rotem Brokat. Sie fand die schwarzen Handschuhe und streifte sie über. Sie reichten bis zu den Oberarmen, und es war jedes Mal aufs Neue schrecklich anstrengend, die Schnüre anzuziehen und ordentlich zu verknoten. Sie machte sich auf die Suche nach Wesley. Er hasste es, dass sie als professionelle Domina arbeitete, doch er tolerierte ihre Arbeit mehr oder weniger. Ehe er vor über einem Jahr bei ihr eingezogen war, hatte sie ihm erklärt, was sie machte. Was sie war. Er war entsetzt gewesen. Er hatte nicht einmal gewusst, dass es so etwas gab. Allerdings war er auch erleichtert, als sie ihm erklärte, sie sei keine Prostituierte und hätte niemals Sex mit ihren Kunden – zumindest nicht mit den männlichen. Es war ihnen nicht mal erlaubt, sie zu küssen,
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