Das Locken der Sirene (German Edition)
Person da unten folgen, bis er sicher war, ob er (oder sie) sein Ziel noch rechtzeitig erreichte. Er wollte wissen, dass sich wenigstens für eine Person in dieser grauen Stadt heute alles zum Guten wendete.
Zach trat vom Fenster zurück und ging zurück zu seinem Schreibtisch. Er setzte sich wieder an den Computer und erinnerte sich zum ersten Mal seit damals an die ursprünglich ersten Zeilen von Noras Roman, die der Überarbeitung zum Opfer gefallen waren.
Ich will diese Geschichte ebenso wenig aufschreiben, wie du sie lesen willst
. Jetzt verstand er es. Das war nicht nur William, der da mit Caroline sprach. Es war auch Nora, die sich direkt an ihn wandte.
Er öffnete erneut Noras überarbeitetes Manuskript. Zwang sich, weiterzulesen. Egal, wie sehr es wehtat – er musste wissen, was als Nächstes passierte.
Nora saß an ihrem Küchentisch und hämmerte wie verrückt auf ihr Notebook ein. Sie hatte vor ein paar Stunden vom Computer auf das Notebook gewechselt. Ihre Handgelenke taten vom Tippen weh, aber sie hatte noch ein weiteres Kapitel im Kopf, das sie unbedingt zu Papier bringen wollte. Gestern, nach ihrem langen Gespräch mit Zach in der Kirche, war sie frisch inspiriert nach Hause gekommen. Sie hatte mit ihren Protagonisten im ersten Entwurf einen schrecklichen Fehler gemacht. In der ursprünglichen Fassung ihres Buches war es Caroline nicht länger möglich gewesen, Williams dunkle Seite zu ertragen. In dieser Fassung hatte Caroline ihn verlassen. Aber Nora erkannte nun, dass sie Caroline damit großes Unrecht getan hatte. Sie war keine sexuell motivierte Masochistin; sie war eine emotionale Masochistin und würde niemals den Mann verlassen, den sie liebte. Den Mann, von dem sie überzeugt war, dass er ihre Hilfe brauchte. Nein, jetzt bekam das Buch ein neues Ende: William würde sie allein aufgrund seiner Liebe zu ihr fortschicken. Das war ein wunderschönes und brutales Ende. So musste es sein. William hatte ihr das gesagt, und sie war klug genug, sich ihm nicht in den Weg zu stellen.
Wesley hatte die letzten beiden Stunden mit ihr am Küchentisch verbracht und weiter seine Fehltage am College aufgeholt. Sie machte sich eigentlich keine Sorgen um ihn. Wesley hatte einen erschreckend klugen Verstand und es in allen drei Semestern, die er bisher an der Yorke war, jedes Mal unter die Einser-Studenten geschafft. Ihr war das zu Collegezeiten nur ein Mal gelungen. Søren hatte es ihr befohlen, allein um sie zu ärgern. Und nur um ihn zurückzuärgern, hatte sie es geschafft. Wesley war jedoch von Natur aus ein Arbeitstier und brauchte niemanden, der ihn ermahnte, seine Hausaufgaben zu machen. Sie hatte ihm mal gesagt, aus ihm würde niemals ein Schriftsteller werden. Dafür war er nicht ansatzweise faul genug.
Wesley … Nora blickte sich in der Küche um. Er war vor über zwanzig Minuten verschwunden, um seinen Blutzucker zu messen und das Insulin zu nehmen – wofür er normalerweise nicht länger als eine Minute brauchte. Danach wollte er das Abendessen kochen. Nora machte sich auf die Suche nach ihm und fand ihn im kleinen Badezimmer im Erdgeschoss übers Waschbecken gebeugt.
„Geht’s dir gut, Wes?“ Sie versuchte sich die Panik nicht anmerken zu lassen, die in ihr aufstieg.
Wesley lachte und schüttelte den Kopf.
„Weißt du, ich habe einige der größten, gemeingefährlichsten und Furcht einflößendsten Hengste geritten, die es auf diesem Planeten so gibt. Da müsste man doch meinen, mir eine kleine Nadel in den Bauch zu stecken wäre ein Witz.“
Erleichtert, weil er nicht wieder krank war, atmete Nora auf und betrat das Badezimmer. Wesley richtete sich auf, und sie lehnte sich gegen den Waschtisch.
„Schaffst du’s immer noch nicht?“
„Nein. Ich fürchte, ich habe eine geistige Blockade.“
„Bei geistigen Blockaden kann ich dir helfen.“
Wesley schüttelte den Kopf. „Ich muss das schon selbst schaffen, sonst kriege ich es ja nie hin.“
„Du wirst es auch selbst machen. Du führst die Nadel. Ich kümmere mich um die Blockade. Wo zielen wir hin?“
Wesley zeigte auf einen Punkt in der Mitte seines Bauches, etwa eine Handbreit unterhalb des Brustkorbs.
„Dr. Singh sagt, ich soll mir einfach vorstellen, mein Bauch sei ein Ziffernblatt, wenn ich die Injektionen setze. Ich beginne um zwölf und wandere dann immer um etwa drei Zentimeter weiter. So laufe ich nicht Gefahr, immer wieder in dieselbe Stelle zu injizieren.“
Nora nickte. „Ziffernblatt, hm?“ Sie hob Wesleys
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