Das Locken der Sirene (German Edition)
sich nicht zu sagen traute
.
„Und was ist dann der Trostpreis?“, fragte sie. Vergebens versuchte sie ein Lächeln für ihn zu finden
.
William beugte sich vor und stützte sein Kinn auf ihren Scheitel. Er schlang die Arme um sie, und sie ließ sich gegen ihn fallen und schloss die Augen. Dieses Spiel hatte eine Sanduhr, die die Zeit anzeigte, und sie sah, dass der Sand zur Neige ging
.
„Ich glaube nicht, dass es einen gibt.“
Gott, es war herzzerreißend. Zach schloss das Dokument und stieß sich vom Schreibtisch ab. Er stand auf und tigerte in seinem Büro auf und ab. Dann blieb er am Fenster stehen und blickte hinaus, auf die Stadt unter und den Himmel über ihm. Heute war ein grauer Tag, kalt und windig. Genau wie an dem Tag, an dem er England verlassen hatte. Ein vom Meer kommender Wind, der warm und heftig wehte. Zach erinnerte sich, wie er am Flughafen gewartet und sich fast der Hoffnung hingegeben hatte, sein Flug werde gestrichen oder wenigstens so lange verschoben, bis Grace erkannte, dass er wirklich im Begriff stand, sie zu verlassen. Aber an jenem Tag hatte der Wind ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Er hatte ihn in die Luft gehoben, statt ihn am Boden zu halten. Die Frauen von Seeleuten hatten früher an ihren Häusern diese kleinen Balkone auf dem Dach gehabt. Wie nannte man die noch mal? Witwenausguck. Genau, das war’s. Ja, der Witwenausguck. Dorthin konnten sie jeden Tag gehen und hinaus aufs Meer schauen und warten. Er beneidete diese Frauen um ihren makabren Beobachtungsposten. Wenigstens konnten sie sehen, ob das Schiff in den Hafen fuhr. Wenigstens hatten sie einen Platz, an dem sie ihren Kummer jeden Tag, der verging, ohne dass ein Schiff einlief, verbergen konnten.
Zach starrte in den Himmel und wünschte, er könnte bis ans andere Ende des grauen Ozeans schauen. Grau war Graces Lieblingsfarbe. Sie hatte immer gescherzt, Grau sei „wie Silber, nur trauriger“, und er hatte sie immer geneckt, weil in ihrem Schrank so viele graue Pullover lagen und sie Dutzende graue Wollsocken besaß. Grace hätte einen Morgen wie den heutigen geliebt. Sie hätte die Vorhänge geöffnet, die Jalousien ebenso, und ihn dann wieder zu sich ins Bett gezogen, um sich in großer Eile zu lieben, ehe die Sonne hervorbrach und die Farbe des Tages veränderte.
Er riss sich vom Anblick des Himmels los und schaute auf die grauen Straßen unter sich. Eigentlich sollten aus dieser großen Höhe doch alle Menschen wie Ameisen aussehen. Aber auf ihn wirkten sie überhaupt nicht wie Ameisen. Sie sahen immer noch wie Menschen aus. Er lehnte den Kopf gegen das Glas und beobachtete, wie sie sich bewegten. Er machte sich Sorgen um diese Menschen und wusste nicht, warum.
Nora … War sie der Grund? Nachdem er angeregt hatte, sie solle die plastischeren Szenen aus ihrem Buch streichen, in denen es vor allem um sexuelle Gewalt ging, hatte sie diese Szenen durch emotionale Gewalt ersetzt. Überall, wo er hinschaute, sah er jetzt Menschen, die so fadenscheinig waren wie Papier.
Noras Buch hatte bei ihm einen tieferen Eindruck hinterlassen, als er zuzugeben bereit war. Am meisten beeindruckte ihn, wie sie die Regeln des klassischen Liebesromans auf den Kopf stellte. Eine der Grundregeln des Liebesromans lautete, dass, egal, wie schrecklich anstrengend die Heldin war, und egal, wie sehr der Held den Wunsch verspürte, sie zu erwürgen, er niemals die Hand gegen sie erheben durfte. Aber William war ein Sadist und benutzte den Schmerz, um ihr seine Liebe zu beweisen. Normalerweise ging es in einem Liebesroman darum, dass zwei Personen versuchten, entgegen allen widrigen Umständen zueinanderzufinden. In Noras Roman begann die Geschichte mit einem Paar, das zusammen war und dann quälend langsam auseinanderdriftete. Sie schrieb im Grunde einen Antiliebesroman.
Zach heftete den Blick auf eine der kleinen Gestalten, die unter ihm über die Straße lief. Er konnte nicht sagen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Er oder sie lief in großer Eile quer über die Straße. Er fragte sich, ob das wohl der Grund war, warum Nora sich trotz ihrer Art zur Religion hingezogen fühlte. Die heidnischen Götter saßen auf ihrem Olymp und spielten mit den Menschen wie mit Figuren auf einem Schachbrett. Noras Gott hatte sich jedoch in einen Bauern verwandelt und von den feindlichen Kräften gefangen nehmen lassen. Er verstand die Faszination, die davon ausging. Zach wollte am liebsten auf die Straße laufen und dieser
Weitere Kostenlose Bücher