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Das Locken der Sirene (German Edition)

Das Locken der Sirene (German Edition)

Titel: Das Locken der Sirene (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tiffany Reisz
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Ich gebe zu, das ist ziemlich ungenau, wie auch alle Bilder von der Kreuzigung ungenau sind in ihrer Darstellung. Sie kennen doch bestimmt dieses kleine Lendentuch, in dem sie Jesus immer zeigen? Das gab’s nicht. Opfer einer Kreuzigung wurden immer vollständig nackt ans Kreuz geschlagen, um ihre Scham und Peinigung noch zu vergrößern. Die Künstler bringen es nicht über sich, zu zeigen, wie menschlich Jesus tatsächlich war.“
    Zach erwiderte nichts. Er war auf merkwürdige Art verzaubert von Noras Worten.
    „Stellen Sie sich nur vor, wie das für ihn gewesen sein muss, Zach.“ Nora schüttelte den Kopf, als könne sie es selbst kaum glauben. „Wir reden über die Jungfrau Maria, aber Jesus hat nie geheiratet. Er war auch Jungfrau. Und da war er nun, vollständig entblößt, und alle Welt konnte zuschauen. Direkt vor ihm sitzt Maria Magdalena, die seine beste Freundin war. Und seine arme Mutter. Seine Mutter, Zach! Das muss für ihn so beschämend gewesen sein, so demütigend. Sehen Sie die beiden Frauen hier. Sie wissen, was es für ihn bedeutet.“
    Zach schaute erst das Bild und dann Nora an.
    „Sehen Sie, wie Ciseri Jesus gemalt hat. Sehen Sie die Linien seiner Schultern und seines Rückens. Eine klassische Frauenpose. Die Hände sind hinter seinem Rücken gefesselt, seine Robe fällt über seine Hüften. Und die ganzen Männer starren und gaffen ihn an und zeigen mit dem Finger auf ihn. Aber die Frauen – sehen Sie, hier vorne? –, sie ertragen es nicht. Die eine schaut zu Boden. Und sie hier“, Nora zeigte auf eine Frau, die sich ganz von der schrecklichen Szene abgewandt hatte, die sich hinter ihrem Rücken abspielte, „sie kann nicht mal hinsehen. Sie muss sich an der anderen Frau festhalten, um nicht zusammenzubrechen. Und von allen Personen auf dem Bild ist sie die einzige, deren Gesicht wir sehen können.“
    Nora verfiel wieder in brütendes Schweigen. Zach beobachtete sie, schaute ihr in die Augen. Doch ihr Blick war auf die beiden Frauen im Vordergrund des Bildes gerichtet, die sich sichtlich gequält aneinanderklammerten.
    „Sie wissen, wie er sich fühlt. Die Frauen wissen immer Bescheid. Sie wissen, dass es nicht nur die Auspeitschung und der Mord sind, die mit anzusehen sie gezwungen sind. Es ist auch gar nicht mal die Kreuzigung. Es war ein sexueller Übergriff, Zach. Es war eine Vergewaltigung.“
    Nora atmete tief durch. Zach hatte Schwierigkeiten, Luft zu holen. Er wollte etwas sagen, doch noch traute er seiner Stimme nicht.
    „Darum glaube ich, Zach“, fuhr Nora fort, „dass von allen Göttern allein Jesus mich versteht. Er kennt den Sinn von Schmerz, Scham und Demütigung.“
    „Und welcher Sinn ist das?“, fragte Zach, weil er es wirklich wissen wollte.
    Noras Blick ging wieder zu den zwei Frauen im Vordergrund des Bildes, die sich voller Mitgefühl und Entsetzen aneinanderklammerten.
    „Natürlich die Erlösung. Und die Liebe.“

11. KAPITEL
    „D u glaubst, ich wäre so verflucht gehorsam“, sagte Caroline und entzog sich William. Sie stand am Fenster und blickte in den Garten. Erst gestern hatten sie da draußen gesessen und bis zum Einbruch der Dämmerung miteinander geredet. Wenn es doch nur mehr Gestern gäbe anstatt so viele Heute
.
    „Du hast mir jedenfalls nie einen Grund zur Klage gegeben.“ Sie hörte an seiner Stimme, wie verwirrt er war
.
    „Es ist immer nur ‚Ja, Meister‘, ‚Nein, Meister‘ oder ‚Wie du wünschst, Meister‘. Aber das tue ich nicht aus Gehorsam.“
    „Warum dann, Caroline?“
    Sie wollte darauf nicht antworten. Aber sie wusste, sie konnte nicht weiterhin mit jedem Atemzug eine Lüge leben
.
    „Angst.“
    „Wovor?“
    „Vor diesem … Spiel, das zu spielen du uns zwingst. Für dich ist es allerdings kein Spiel, nicht wahr?“
    Er kam zu ihr. Stand direkt hinter ihr. Sie wappnete sich, doch er berührte sie nicht
.
    „Nein, das ist es nicht. Für mich ist das hier sehr real.“
    „Ich will so sehr … so sehr, dass es ein Spiel ist“, gab Caroline zu. „Spiele kann man gewinnen. Man gewinnt das Spiel, und im selben Moment ist es vorbei. Und ich will, dass es vorbei ist.“
    „Es kann ja vorbei sein“, sagte William. Seine Stimme war leise und traurig. „Wenn du aufhörst, es zu spielen.“
    „Aber das kann ich nicht. Wenn ich aufhöre zu spielen …“ Sie vollendete den Satz nicht. Sie brachte es nicht übers Herz, die Wahrheit auszusprechen
.
    „Dann wird keiner von uns je gewinnen.“ William sprach aus, was sie

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