Das Locken der Sirene (German Edition)

Tag gefragt hatte. Ihre Ehe hatte mit Terror und Scham begonnen und war im Laufe der Zeit zu etwas geworden, ohne das er nicht mehr hatte leben wollen. Zach wusste, warum
er
geblieben war. Aber warum war sie geblieben?
    Er stand auf, rieb sich den Nacken und versuchte wenigstens ein paar Minuten an etwas anderes zu denken. Doch dann wanderten seine Gedanken automatisch zu Nora, und das war sogar ein noch viel gefährlicheres Terrain. Nora – seit ihrer betrunkenen Nacht, in der sie sich so idiotisch benommen hatten, war über eine Woche vergangen. Er konnte immer noch spüren, wie ihr Mund sich auf seiner Haut anfühlte. Es war so fremd gewesen, wieder von der Hand einer Frau berührt zu werden. So merkwürdig, wach und bei Verstand zu sein und über etwas anderes nachzudenken als darüber, dass er Grace verloren hatte. Er hatte in dem Augenblick über gar nichts nachgedacht außer darüber, dass das, was Nora mit ihm machte, ihm genügen würde bis zum Tag seines Todes. Erst danach hatten die Schuldgefühle eingesetzt. Schuldgefühle darüber, dass er ein paar Minuten lang versäumt hatte, sich schuldig zu fühlen.
    Zach rechnete kurz in Gedanken nach: Sieben Uhr abends in New York bedeutete, es war in London Mitternacht. Er wusste, dass Grace noch wach war. Sie war eine klassische Nachteule. Wenn sie nachmittags nach Hause kam, machte sie ein langes Schläfchen, um dann abends viel zu lange aufzubleiben und zu lesen.
    Er nahm das Telefon und wählte. Es klingelte einmal. Niemand ging ran. Ein zweites Klingeln und noch immer keine Antwort. Zachs Mut sank mit jedem Klingeln. Zwischen dem siebten und dem achten Klingeln flüsterte er: „Ich vermiss dich, Gracie“ und legte auf. Er saß neben dem Telefon auf dem Fußboden und vergrub das Gesicht in den Händen. Mitternacht, und sie war nicht zu Hause. Mitten in der Woche war sie nicht …
    Eine Schrecksekunde lang stellte er sich vor, dass sie mit einem anderen Mann zusammen war. Aber er wusste, es stand ihm nicht zu, wütend oder eifersüchtig zu sein. Nach der Nacht mit Nora hatte er jedes Recht verwirkt, verletzt zu sein.
    Nora … Er dachte an das, was sie ihm letzten Donnerstag bei ihrem Besuch in seinem Büro angeboten hatte – sie hatte ihm angeboten, ihn in ihre Welt mitzunehmen, damit er sah, was es bedeutete, ohne Schuldgefühle und selbst auferlegte Beschränkungen zu leben. Er beneidete sie um ihre Freiheit. Und zugleich fragte er sich, ob ihr geheimnisvoller Exliebhaber Søren die Quelle ihrer Lebhaftigkeit war. Nora hatte ihm am ersten Tag, als sie die Arbeit an ihrem Buch aufnahmen, erklärt, Søren habe sie besessen. Er konnte sich nicht annähernd vorstellen, was das bedeutete. Wie so eine Beziehung aussah. Aber vielleicht wusste nur jemand, der einst Sklave gewesen war, den Wert der Freiheit wirklich zu schätzen.
    Lass mich dir zeigen, wie das Leben ist, wenn man im Moment lebt. Keine Vergangenheit, keine Zukunft, nur der eine, perfekte Augenblick, in dem du dich gerade befindest. Es gibt keine Schuld, es gibt keine Scham, und es gibt absolut nichts, vor dem man Angst haben muss …
    Keine Schuld, keine Scham, keine Angst – er hatte inzwischen vergessen, wie es sich anfühlte, ohne seine drei ständigen, grausamen Begleiter zu leben. Konnte Nora ihn wirklich erlösen? Allein wenige Minuten der Freiheit zu erleben schien in seinen Augen jeden Preis wert zu sein.
    Zach schaute auf sein nutzloses Telefon und sah sich in der leeren Wohnung um. Dann traf er eine rasche Entscheidung. Er stand auf und nahm seinen Mantel. In der nächsten Minute war er auf der Straße, und zehn Minuten später saß er im Zug. Ich werde mich nicht in meinen Vater verwandeln, sagte er sich.
    Jedenfalls nicht heute Nacht.
    An ihrem dritten gemeinsamen Morgen erwachte sie in seinem Bett und war allein. Langsam setzte sie sich auf und achtete dabei darauf, ihren schmerzenden und geschundenen Körper nicht zu sehr zu quälen. Die letzte Nacht war bisher die brutalste gewesen, und bei der Erinnerung an die sinnlichen Verbrechen, die er an ihrem Fleisch begangen hatte, lächelte sie. Er hatte zwei Jahre damit zugebracht, sie geistig auf das vorzubereiten, was er von ihr verlangen würde, wenn sie ihre Beziehung erst vollzogen. Obwohl sie gewusst hatte, was auf sie zukam, weil sie ihn oft genug mit anderen Frauen beobachtet hatte, hatte sie doch erst, als die ersten Schläge auf ihrem jungfräulichen Rücken landeten, begriffen, wie groß die Schmerzen waren. Als sie am