Das Löwenamulett
reichsten Kaufleute ganz Italiens.«
Natürlich war das maßlos übertrieben, aber wenn diese Übertreibung ihren Zweck erfüllte, sollte sie mir recht sein.
»Sehr erfreut«, sagte der Junge. Er war sichtlich beein-druckt. »Ich heiße Lysander. Mein Herr ist der Besitzer der Löwentruppe. Er heißt Decimus Lucretius Mordax. Ihm gehört das alles hier, das Haus und alle Gladiatoren.«
»Und was machst du?«, flötete ich. »Bist du auch ein Gladiator?«
Natürlich wusste ich, dass er kein Gladiator war. Dafür war er viel zu jung. Außerdem würde kein Gladiator die Einkäufe erledigen, die hatten anderes zu tun. Ich wollte ihm einfach nur etwas Honig um den Mund schmieren.
»Ich?«, lachte Lysander. Er wirkte tatsächlich geschmei-chelt. »Nein, ich bin kein Gladiator. Würde auch nicht gern einer werden, ist mir zu gefährlich. Ich bin hier für alles Mögliche zuständig. Ich kaufe ein, helfe der Köchin oder dem Medicus, leere die Latrinen, repariere die Ausrüstung der Männer, trage ihnen in der Arena die Waffen vo-ran …«
»Das klingt aufregend«, trällerte Delia.
Lysander musterte sie überrascht. »Das ist es auch«, sagte er dann und verknotete verlegen die Hände. »Ich mag meine 54
Arbeit, auch wenn mein Herr streng ist und oft schlechte Laune hat.«
»Wir würden wirklich gerne einmal beim Training zuschauen«, versuchte ich mein Glück. »Meinst du nicht, dass du uns vielleicht doch …?«
»Wir bleiben auch nicht lange«, sagte Delia. »Wir wollen uns die Männer nur einmal anschauen. Aus der Nähe, verstehst du? Im Amphitheater müssen wir ja immer so weit hinten sitzen, weil wir Mädchen sind.«
»Na ja«, druckste Lysander. »Eigentlich geht das nicht, mein Herr hat streng verboten, Fremde ohne sein Wissen in das Haus zu lassen.«
»Aber wir sind doch keine Fremden«, sagte ich mit gespielter Entrüstung. »Du kennst doch unsere Namen.«
»Schon«, sagte Lysander, »aber mein Herr …«
»Ach bitte!«, säuselte Delia.
»Also, ich weiß nicht …« Lysander rang sich zu einem Entschluss durch. »Also gut«, sagte er schließlich und mein Herz machte einen Sprung. »Der Herr ist gerade nicht im Haus. Ich weiß aber nicht, wann er wiederkommt. Ihr könnt also nicht lange bleiben. Und ich muss vorher den Trainer fragen.«
»Prima!«, rief ich begeistert. »Wir stören auch nicht.«
»Ganz bestimmt nicht«, versicherte Delia.
»Falls jemand fragt, werde ich erzählen, dass ihr mir beim Tragen der Einkäufe geholfen habt. Außerdem haben wir gerade die Tischler im Haus, da fallen zwei weitere unbekannte Gesichter vielleicht gar nicht auf. Obwohl, na ja, ihr seid Mädchen … Die findet man in einer Gladiatorenschule nur höchst selten.«
55
»Wir fallen ganz bestimmt nicht auf«, sagte ich. »Wir setzen uns still an den Rand und schauen nur zu.«
»Wenn mein Herr euch erwischt, dann bin ich geliefert. Er hat eine mächtig fiese Peitsche.«
Lysander verzog das Gesicht, offenbar hatte er sie schon das eine oder andere Mal zu spüren bekommen.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Delia. »Dann sagen wir, dass wir uns heimlich hineingeschlichen haben. Ach, übrigens …«, sie zog das Amulett aus ihrer Tunica hervor,
»kennst du das?«
»Klar«, sagte Lysander, »das Medaillon unserer Truppe.
Schaut, ich habe auch so eins.« Er zog den Ausschnitt seiner Tunica nach unten und zeigte es uns.
»Tragen die Männer, ich meine, die Gladiatoren auch so ein Medaillon?«
»Die meisten schon«, sagte er. »Es bringt ihnen Glück.
Der Greif ist der Begleiter der Göttin Nemesis, an die sich die Gladiatoren vor allem vor einem Kampf mit Gebeten und Opfern wenden. Und der Löwe, na ja, ist ja klar, der steht für unsere Truppe, genau wie die Buchstaben.«
»Die meisten oder alle?«, fragte ich.
»Wie?« Lysander schaute mich verständnislos an.
»Ich meine«, sagte ich, »ob nur einige oder alle Gladiatoren so ein Amulett besitzen.«
»Ach so«, Lysander zuckte mit den Schulter. »Wenn ein neuer Mann in die Truppe kommt, schenkt der Herr ihm ein solches Amulett. Mir hat er auch eins geschenkt, es ist nicht sehr wertvoll. Aber nicht alle Männer tragen es, gerade beim Training kann es hinderlich sein. Bei einigen Männern hängt 56
es an der Tür ihrer Kammer. Oder über ihrem Strohsack.
Auch die Mitglieder der Fanclubs besitzen solche Medaillons.
Aber das wisst ihr ja, ihr seid doch auch in einem Fanclub, oder?«
»Klar«, sagte Delia, »daher haben wir das Amulett. Ein Freund hat
Weitere Kostenlose Bücher