Das Los: Thriller (German Edition)
abgelöst.
»Glaubst du, ich könnte hinter der Ermordung des Mönchs stecken?«, fragte Henri unvermittelt und fixierte Trisha mit ernstem Blick von der Seite.
Ein Gefühl, als habe ihr jemand kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet, machte sich in Trisha breit. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht …«, entgegnete sie ausweichend.
»Nur weil ich im Gefängnis gesessen habe, bin ich noch lange kein Mörder. Und auch alle anderen, die mit mir im Gefängnis gesessen haben, sind ebenfalls nicht automatisch Mörder.«
Trisha vernahm aus seinen Worten Verbitterung. Chads Bericht über sein Gespräch mit Zhang kam ihr in den Sinn. Wer log hier? Sie suchte einen Punkt am Straßenrand, der schnell an ihnen vorbeiflog. Sie konnte Henri nicht ins Gesicht sagen, dass sie ihn für einen Vergewaltiger hielt. War er tatsächlich einer, wäre das sehr unklug. Hatte Zhang aus irgendeinem Grund gelogen, war es noch unklüger.
»Wie gesagt: Ich bin unschuldig«, fuhr er fort. »Auch wenn du mir das nicht glaubst – was ich dir nicht einmal verübeln könnte, denn mir hat das noch nie jemand geglaubt. Aber ich kann dir versichern, dass die meisten Häftlinge, die ich kennengelernt habe, mehr Anstand und Moral besitzen als die Menschen hier draußen. Oftmals ist es ein einziger Fehler, ein Moment der Schwäche, der einem die Freiheit kostet. Deswegen ist man aber nicht für alle Zeiten ein schlechter Mensch.« Die letzten Worte hatte er lauter und mit bewegter Stimme gesprochen.
Aus einem Grund, der Trisha nicht klar war, beschämte sie sein Plädoyer. Sie fühlte sich wie eine Kugel in einem Flipperautomaten, die von Bande zu Bande geschossen wurde. Verlegen pustete sie sich mit nach oben geschürzten Lippen kalte Luft auf die Stirn, um für ein wenig Abkühlung zu sorgen. Die Luft im Wagen stand.
Mittlerweile wurden die Abstände zwischen den Gebäuden immer größer. Der Horizont weitete sich, und sie fuhren parallel zu einer Bahnlinie. Offenbar hatten sie die Stadtgrenze erreicht. Der Taxifahrer schaltete das Radio ein und beschallte sie mit lauter Bollywood-Musik, zu der er rhythmisch mit beiden Händen auf das Lenkrad trommelte.
Trisha traute sich nicht, Henri einen Blick zuzuwerfen, doch ihr mulmiges Gefühl, das sie bereits seit einiger Zeit beschlich, vergrößerte sich, je einsamer es um sie herum wurde. Der Fahrer überholte einen leeren Doppeldeckerbus, der sie an London erinnerte. Dann bog er, ohne zu bremsen, über die Gegenfahrbahn in eine schmale Straße ab, sodass Trisha gegen die Seitenscheibe gedrückt wurde und Henri sich für einen kurzen Augenblick an sie schmiegte, bevor beide in ihre ursprüngliche Sitzposition zurückgeschleudert wurden. Sie durchquerten eine schmale Gasse zwischen zwei Lagerhäusern. Danach war der Weg gesäumt von Steinhaufen und hier offenbar wild abgeladenem Bauschutt. In der Ferne erhob sich ein dunkler Berg. Erst auf den zweiten Blick erkannte Trisha, dass es eine Müllhalde war.
»Wo zum Teufel bringt er uns hin?«, zischte Henri und beugte sich vor, um besser sehen zu können.
Mit einem Mal bereute Trisha es, in das Taxi gestiegen zu sein. Immer wieder hatte sie von Horrorgeschichten gehört, bei denen Touristen im Ausland verschleppt und ausgeraubt oder gar misshandelt und vergewaltigt worden waren.
»Woher wusste der Fahrer überhaupt, dass wir diesen Pradeep suchen?«, fragte Trisha.
Henri zuckte mit den Schultern. »Vielleicht von dem Rikschafahrer?«, mutmaßte er.
Das konnte sein, dachte Trisha. Vermutlich würde der Fahrer gleich anhalten und eine Horde Straßenräuber über sie herfallen, die anschließend ihre Körper auf dem Müllhaufen entsorgten. Trisha betätigte vorsichtig den Türöffner. Die Tür war verriegelt.
Langsam spürte sie Panik in sich aufsteigen.
»Was, wenn man uns gleich etwas antut?«, flüsterte sie in Henris Richtung. »Wir sollten schleunigst raus aus dem Wagen!«
Henri antwortete ihr nicht, sondern tippte dem Fahrer erneut auf die Schulter. »Stopp!«, verlangte er forsch.
Der Fahrer zeigte auf sein Ohr und drehte das Radio leiser.
»Ich sagte: Stopp!«, wiederholte Henri, nun lauter.
Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. »Da Pradeep Kottayi!«, sagte er und zeigte in Richtung des Müllbergs.
Henri packte seine Schulter fester. »Wir wollen hier raus!«, brüllte er.
Seine Stimme klang so aggressiv, dass Trisha unwillkürlich zusammenfuhr. Offenbar hatte er im Gefängnis gelernt, sich durchzusetzen.
Auch der Fahrer
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