Das Los: Thriller (German Edition)
zuckte zusammen und beugte sich nach vorn, um Henris Griff zu entkommen. »Da Pradeep Kottayil!«, wiederholte er fast flehentlich.
Henri schaute hilflos zu Trisha.
Plötzlich wurde der Fahrer langsamer und hielt an. »Da Pradeep Kottayil!«, rief er abermals und zeigte nach draußen.
Trisha reckte den Hals, und Henri tat es ihr nach. Dort, wohin der Fahrer zeigte, lag im Staub eines unbefestigten Weges neben der Straße, keine vier Meter vom Kotflügel des Taxis entfernt, ein großes weißes Bündel. Zunächst hielt Trisha es für Müll, doch dann erkannte sie darin die Konturen eines Menschen. Ihre Knie begannen zu zittern.
»Ach du Scheiße!«, stieß Henri neben ihr aus.
In diesem Moment sprang der Taxifahrer aus dem Wagen, umrundete die Motorhaube und öffnete die hintere Tür mit einer eleganten Verbeugung, als gelte es, einen Staatsgast zu begrüßen.
»Pradeep Kottayil!«, sagte er mit breitem Grinsen.
Ein warmer Windstoß wie von einem riesigen Föhn drang zu Trisha ins Taxi, begleitet von einem bestialischen Gestank, der ihr den Magen umdrehte.
59
N EW Y ORK C ITY
Luna bewegte den Mund, daher ging er davon aus, dass sie redete. Doch wie Seifenblasen, die nach wenigen Metern zerplatzten, erreichten ihre Worte ihn nicht. Zwar besaß auch er nicht die Gabe, seine Ohren zu verschließen. Schon immer konnte er jedoch seine Gedanken so laut stellen, dass sie seine Umgebung übertönten. So auch jetzt.
Beinahe amüsiert beobachtete er, wie Luna scheinbar aufgewühlt vor seinem Krankenbett auf und ab lief, wild mit den Armen gestikulierte, plötzlich weinte, in ein Taschentuch schnäuzte, welches sie zusammengeknüllt in ihrer Faust umhertrug, und schließlich wie erschöpft an der Wand lehnte und ihn mit glasigen Augen betrachtete. Wenn er seine Gedanken einmal leiser stellte, drangen Wortfetzen wie »liebe dich noch immer«, »besser für uns beide« und »du musst dich jetzt auf dich konzentrieren« in sein Ohr. Sie war eine schlechte Schauspielerin, aber auch sie gierte nach Applaus. Er hatte täglich mit diesem Auftritt gerechnet. Wenn sie überhaupt etwas an ihm gemocht hatte, dann seine Stärke, und die schien er aus ihrer Sicht nun endgültig verloren zu haben. Welches Glamourgirl wollte schon mit einem Schwerkranken oder Behinderten zusammen sein. Er war wie eine leckgeschlagene Jacht, und diejenige, die bislang wie eine Wasserskifahrerin in seinem Fahrwasser die Gischt des warmen Meeres genossen hatte, würde nicht mit ihm ins Trockendock kommen, sondern sich eine andere Mitfahrgelegenheit suchen. Dies hätte sie leichter haben können, und zwar ohne dieses Theater, aber sie kämpfte um eine Art Abfindung. Wie alle, die um ihn herumschwirrten, wollte auch Luna nur sein Geld. Doch jetzt hatte er genug von ihrer Laienaufführung. Zum Glück gab es den Knopf, der hinter seinem Kopf an einem kurzen Kabel schwebte. Kaum hatte er ihn gedrückt, öffnete sich die Tür, und eine Krankenschwester, die er Elena nennen durfte, betrat das Zimmer. Ein Blick genügte ihr, um zu erkennen, dass hier einem Schwerkranken zu viel aufgebürdet wurde. Mit der leicht nach vorne gebeugten Geste einer helfenden Seele packte sie Luna am Arm und geleitete sie mit beruhigenden Worten, die in seinen Ohren wie Musik klangen, aus dem Zimmer. Das Letzte, was er von Luna sah, waren ihre großen, verweinten Augen.
Erleichtert atmete er auf. Die Ratten verließen das sinkende Schiff, und mit jeder Ratte, die ging, hatte er das Gefühl, dass er selbst und der Rest seiner Ladung sicherer waren. Er hatte sich immer gefragt, wohin die Ratten beim Sinken eines Schiffes eigentlich flohen, wenn um sie herum weit und breit nur Ozean war. Aber er würde nicht sinken. Nein, er hatte kein riesiges Leck, das ihn zum Untergang verdammte, sondern nur ein mittelgroßes; und so etwas ließ sich reparieren, auch wenn man eine Weile Schlagseite hatte.
Wenn er die Augen schloss, sah er den Mönch vor sich. So war es schon gewesen, als er nach den Schüssen in die Notfallambulanz eingeliefert worden war. Und der Mönch sprach zu ihm …
Nicht die Dialyse war es, die ihn seit Tagen am Leben hielt, sondern ein Halbsatz des Mönchs, den er wie ein Mantra ständig in Gedanken wiederholte und den er mittlerweile sogar wie einen Ohrwurm leise vor sich her sang: »ein Preis von unermesslichem Wert«. Nach einer Zeit des Leidens würde dies am Ende seine Belohnung sein. Fast befürchtete er, noch gläubig zu werden.
Ein Telefon klingelte. Es dauerte,
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