Das Los: Thriller (German Edition)
Rose und legte sie ebenfalls in die Bibel. Marie unterdrückte einen Schmerzenslaut, als sie sich erneut an einer der Dornen stach. Während sie einen kleinen Tropfen Blut aufsaugte, hielt sie einen Moment andächtig inne und betrachtete die Rosen. Wie konnte etwas so schön und so schmerzlich zugleich sein, dachte sie.
Sie gab sich einen Ruck, schloss das dicke Buch und legte es zurück. Angewidert griff sie nach der Pistole und legte sie mit spitzen Fingern neben die Bibel.
Liebe und Hass lagen oft so nahe beieinander, dachte sie.
61
M UMBAI
Trotz des penetranten Geruchs und der verlassenen Gegend war Trisha froh, endlich aus dem Taxi aussteigen zu können, in dem sie sich wie eine Geisel gefühlt hatte. Henri schien es nicht anders zu gehen. Kaum hatte er das Taxi verlassen, umrundete er den Kofferraum und stellte sich schützend zwischen sie und den Fahrer. Er hielt seinen Arm vor sie, als könne er damit Böses von ihr fernhalten, und sondierte die Umgebung. Plötzlich hatte er etwas von einem Leibwächter an sich. Für einen Moment vergaß sie, was Chad ihr über Henri erzählt hatte, und erstmals gab es ihr ein gutes Gefühl, dass ihr Begleiter frisch aus dem Gefängnis kam. Sie redete sich ein, dass er schon wusste, wie man mit scheinbar brenzligen Situationen und gefährlichen Typen umgehen musste. Vielleicht gab es so etwas wie ein universales Verständnis zwischen Kriminellen, das selbst Sprachbarrieren zu überwinden vermochte.
Der Fahrer stand keine zwei Armlängen von ihnen entfernt und machte keinen wirklich angriffslustigen Eindruck. Im Gegenteil. Mit fast kindlicher Freude deutete er auf den weißen Plastiksack, der neben ihnen lag und mit Seilen fest verschnürt war.
»Da Pradeep Kottayil«, wiederholte er.
Trisha verzog angewidert den Mund, was nicht nur dem Geruch nach Aas, Kloake und Müll geschuldet war. An Henris Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er genauso wie sie wusste, was sie in dem Plastiksack erwartete. Sie hatte wenig Lust, in ihn hineinzusehen. Der Anblick eines von Ratten zerfressenen Gesichts kam ihr in den Sinn.
Mittlerweile war der Fahrer zu dem weißen Plastiksack gegangen und hatte mit dem Fuß unsanft dagegengetreten, als wolle er den Inhalt wieder zum Leben erwecken. Trisha erschrak, als der Sack sich tatsächlich bewegte. Erneut tippte der Fahrer ihn mit der Spitze seiner Sandale an, und wieder bewegte der Sack sich, diesmal sogar noch deutlicher.
»Pradeep Kottayil!«, rief der Fahrer ein weiteres Mal und schaute sie triumphierend an.
Dann schlurfte er zu seinem Auto, schwang sich hinter das Steuer und setzte einen Meter schräg zurück, sodass er Trisha und Henri bedrohlich nahe kam. Dann wendete er in einer scharfen Kurve und raste davon, wobei die Reifen auf dem sandigen Untergrund durchdrehten. Trisha schaute auf Henri, der dem sich rasch entfernenden Fahrzeug ebenso verblüfft hinterherblickte wie sie.
Eine Wolke aus Staub und Dreck legte sich über sie beide und drang – durch einen unbedachten tiefen Atemzug – bis tief in Trishas Bronchien. Ein Hustenanfall trieb ihr die Tränen in die Augen. Als sie wieder sehen konnte, kniete Henri einige Meter von ihr entfernt neben dem Sack und versuchte, die Seile zu lösen. Unter seinen Händen wand sich der Sack wie eine riesige weiße Larve, aus der jeden Augenblick ein gigantischer Schmetterling schlüpfen konnte. Endlich hatte Henri die Schnüre geöffnet und sprang mit einem großen Satz zur Seite, als würde er eine Brut Schlangen in Freiheit setzen.
Der Sack richtete sich senkrecht auf, dann wurde er langsam nach oben geschoben, und darunter kamen erst zwei Beine, dann ein T-Shirt und schließlich ein ganzer Mensch zum Vorschein. Seine Augen zeigten Panik. Mit seinen Armen schlug er wild um sich. Schließlich wurden seine Bewegungen langsamer, und er stütze seine Hände schwer atmend auf die Knie. Dann übergab er sich. Trisha wendete sich ab und konnte nur mit Mühe den eigenen Brechreiz unterdrücken. Als sie sich wieder traute, hinzuschauen, stand der Mann, ohne Zweifel ein Inder, noch immer unverändert da und starrte auf den Boden vor sich.
»Pradeep Kottayil?«, fragte Henri vorsichtig.
Der Inder hob langsam den Kopf, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und blickte Henri aus müden Augen an. Jetzt erst schien er auch Trisha zu bemerken.
»Wir sind Freunde und haben dich befreit«, erklärte Henri auf Englisch und deutete auf die leere weiße Hülle. »Wer hat dich da
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