Das Los: Thriller (German Edition)
reingesteckt?«
»Wer seid ihr?«, erwiderte der Inder, ohne auf seine Frage zu antworten. Er sprach Englisch mit einem starken Akzent, an den sich Trisha erst gewöhnen musste.
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Henri und lächelte ihn an, was jedoch ohne Wirkung blieb.
»Verschwindet!« fauchte der Inder und spuckte auf den Boden neben sich.
Er hatte pechschwarzes Haar, das in Strähnen an seinem Kopf klebte. Seine Haut war etwas heller als bei vielen anderen seiner Landsleute. Trisha schätzte ihn auf keine dreißig. Seine Kleidung war zerschlissen, und dort, wo seine nackte Haut zu sehen war, erkannte Trisha Narben. Langsam drehte er sich zu ihnen, den Blick wie ein lauerndes Raubtier auf Henri gerichtet.
»Wir haben deine kleine Tochter gesehen«, berichtete Trisha. »Wie heißt sie doch gleich – Pandita?«
Sofort verschwand die Feindseligkeit aus dem Gesicht ihres Gegenübers und wich großem Erstaunen.
»Wer seid ihr?«, wiederholte der Inder, nun in einem höflichen Tonfall.
Trisha überging die Frage und kam gleich zur Sache. »Wir müssen dich sprechen – es geht um eine Lotterie«, sagte sie so freundlich, wie sie nur konnte.
Henri schien zu der Erkenntnis gekommen zu sein, ihr die Gesprächsführung zu überlassen, und hörte nun schweigend zu.
»Die MHADA?«, fragte der Inder.
Trisha war nicht sicher, was er meinte. Sein Englisch war für sie nicht einfach zu verstehen. »Mit ein wenig Glück kannst du mit deinem Los zu viel Geld kommen. Ganz viele Rupien gewinnen.«
Der Gesichtsausdruck des Mannes, den sie für Pradeep hielten, hellte sich weiter auf. Wenigstens schien er sie zu verstehen. »Dann schickt euch die MHADA? Bekomme ich mein Geld zurück?«
Trisha rätselte immer noch über den Sinn seiner Worte. Vielleicht war der Ausdruck »MHADA« so etwas wie das indische Wort für Glück.
»Mit ein wenig Glück ist dein Los Gold wert«, sagte Trisha.
»Hauptsache, ich bekomme mein Geld zurück«, entgegnete Pradeep. »Wegen Pandita.«
Sie warf Henri einen fragenden Blick zu, doch er hob nur die Schultern.
»Sollen wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten?«, schlug Trisha vor.
Pradeep stemmte seine Hände in die Hüften und schien seine Gedanken zu ordnen. Dann nickte er, streckte die Arme aus und drehte sich nach rechts und links. »Wo sind wir?«, fragte er.
Trisha kopierte seine Bewegung und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Pradeep schaute auf Henri, der sich gerade mit einem Taschentuch die Stirn trocknete und keine Anstalten machte, etwas zu ihrer Unterhaltung beizutragen.
»Woher kommt ihr?«, erkundigte sich Pradeep, der wieder Trisha anblickte.
»Aus Großbritannien und aus Deutschland«, antwortete sie und zeigte dabei erst auf sich und dann auf Henri.
Pradeep schaute sie verständnislos an. »Ich meine, wie seid ihr hierhergekommen?«
»Mit dem Taxi«, sagte Trisha und zeigte dorthin, wo vor wenigen Minuten noch das Taxi gestanden hatte.
Der junge Inder folgte ihrem Finger und schaute in die Leere. Ein lautes Tuten wurde vom Wind von irgendwo hinter dem Müllberg, der sich unweit von ihnen erhob, zu ihnen herübergetragen. Pradeep hob horchend den Kopf und drehte sich in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien.
»Alle Schienen führen nach Mumbai!«, meinte Pradeep und marschierte auf den Müllberg zu. Nach einigen Metern blieb er stehen und blickte sich nach Henri und Trisha um. »Kommt!«, forderte er sie auf.
Nach kurzem Zögern folgten die beiden dem Inder.
»Wir haben ihn gefunden!«, raunte Trisha.
Henri nickte. Sein Blick war konzentriert auf den Hang aus Müll gerichtet, dem sie sich rasch näherten, was man auch am zunehmenden Gestank merkte.
»Irgendjemand wollte, dass wir ihn finden«, sagte er schließlich.
Trisha erwiderte darauf nichts, sondern schritt weiterhin schweigend neben ihm her, während Pradeep einige Meter vor ihnen ging. Sie war tief in Gedanken versunken. Chads Worte über Henri fielen ihr wieder ein. Sie schob sie beiseite und versuchte, ihre eigene Situation zu analysieren.
Sie war Teil eines Spiels, das sie noch nicht verstand. Schlimmer noch: Sie kannte noch nicht einmal all ihre Mitspieler und auch nicht den Preis, den es zu gewinnen gab. Und als wäre dies noch nicht schlimm genug, hatte sie als Nächstes einen riesigen Haufen Müll zu überwinden. Sie wusste nicht, wieso ihr dieser Gedanke kam, aber irgendwie hatte dies alles mit ihrem bisherigen Leben zu tun. Als habe jemand es in ein Sieb getan,
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