Das Los: Thriller (German Edition)
und die momentane Situation war das, was übrig blieb, wenn man kräftig genug schüttelte. Plötzlich schien es ihr wie eine übernatürliche Fügung, dass sie genau jetzt hier war. Es war ihre Bestimmung, für diese Lotterie ausgewählt worden zu sein und sie zu gewinnen. Wie viel Gutes würde sie mit dem Gewinn tun können. Sich, ihren Eltern, Chad. Vielleicht auch den armen Kindern hier in Indien. Vielleicht war das hier – der Berg aus Abfall, den es zu überwinden galt – der letzte Eignungstest, bevor Fortuna ihr Füllhorn über ihr ausschüttete.
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N EW Y ORK C ITY
Frauen und Männer, selten Kinder, sprangen in großen Sätzen durch den Flur des Hotels. Der Zeitraffer der Videoaufnahmen hatte auf ihn eine hypnotische Wirkung. Gonzales biss in den Powerriegel und kaute betont kräftig mit seinen Kiefermuskeln, als könne ihn dies wach halten.
Seit Stunden hatte er sich durch die Stockwerke gearbeitet. Aus der Lobby lagen ihm mittlerweile mehrere Bilder des Mannes vor, den er verdächtigte, für die Mordanschläge auf den Gottesmann und Fields verantwortlich zu sein. Aber er konnte keine Fahndung nach ihm ausschreiben. Würde er auf seinem Weg nicht vorankommen, müsste er das Material der Polizei zuspielen. Noch hoffte er, auf einem der Bänder den Kerl in dessen Zimmer gehen zu sehen. Danach würde es Gonzales nur noch einen Anruf kosten, um zumindest an einen Namen zu gelangen. Er spülte den Riegel mit einem Schluck polnischen Mineralwassers herunter. Wie konnte man nur einen Mönch umbringen! Er war zwar kein Kirchgänger, aber katholisch erzogen worden. Und hätte er einen Diener Gottes auf dem Gewissen, er würde kein Auge mehr zumachen. Vielleicht war das ja sein Problem.
Er gähnte. Pärchen in Abendkleidung, Pärchen in Bademänteln, turtelnde Pärchen vor dem Sex, turtelnde Pärchen nach dem Sex, torkelnde Gruppen von Männern, die Junggesellenabschiede feierten, torkelnde Gruppen von Frauen, die Junggesellinnenabschiede feierten. Die ganze Welt eines Kasino-Hotels in Las Vegas zog an ihm vorbei.
Seine Augen folgten jeder Bewegung. Bei der Armee hatte er gelernt, genau zu beobachten. Ob als Spotter eines Scharfschützen oder auf dem Radar. Und auch wenn seine Augen mittlerweile brannten und er ständig gähnen musste, war er voll konzentriert.
Fahrstuhltüren schlossen und öffneten sich.
Plötzlich schnellte sein Zeigefinger nach vorn und hämmerte auf die Pause -Taste. Dabei imitierte er mit dem Mund das Geräusch eines Gewehrschusses. Mit drei Klicks der Maus vergrößerte er das Bild und blickte in das verschwommene Gesicht eines Mannes.
»Ich wusste, ich finde dich«, sagte er zum Bildschirm.
Dann ließ er das Video weiterlaufen. Wenige Einstellungen später blieb die Person vor einer der Zimmertüren im Hotel stehen. Die nächste Einstellung zeigte, wie er in der halb geöffneten Tür stand, dann war sie geschlossen. Wieder drückte er die Pause -Taste und vergrößerte das Bild. Auf rotem Untergrund stand dort die Nummer des Zimmers. Er griff nach einem Kugelschreiber und notierte sie auf einem Zettel.
Anschließend nahm er sein Handy und wählte eine eingespeicherte Nummer. Es dauerte eine Weile, bis sich jemand meldete.
»Jetzt brauche ich einen Namen zu einer Zimmernummer«, sagte er ohne Umschweife. »Von dem Tag der Bänder, die du mir geschickt hast.« Er nannte die Nummer und wartete. Eine Weile geschah nichts, dann notierte er sich neben der Zimmernummer einen Namen.
Er beendete das Telefonat, ohne sich zu verabschieden, und stieß einen leisen Pfiff aus. Langsam wurde die Sache interessant.
63
B ERLIN , 1764
»Was ist los?«, wollte Casanova wissen. »Was starrt Ihr mich so an, als sei ich ein Gespenst?«
Beide saßen im Salon. Vor Casanova standen mehrere Flaschen feinsten Alkohols, die Calzabigi bislang unbeachtet gelassen hatte. Stattdessen hockte er zusammengesunken in seinem Sessel.
»Ihr wart es beim Karneval, nicht?«, fragte er schließlich, ohne sein Gegenüber aus den Augen zu lassen. »Ihr habt mir das schlechte Geld verkauft, zur Rettung der Lotterie, weswegen ich nun vor dem Bankrott stehe. Gebt es wenigstens zu!«
Casanova schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht«, sagte er mit unschuldiger Miene. »Ihr müsst mich verwechseln. Aber erzählt nur, was geschehen ist. Vielleicht kann ich Euch helfen. Erinnert Euch, wie wir gemeinsam die Lotterie in Paris zum Leben erweckt haben! Ach, lange ist es her. Mit Eurem Bruder war es. Was
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