Das Los: Thriller (German Edition)
Er bückte sich und hob eine kleine bronzefarbene Münze auf. Vorsichtig schaute er sich um, doch weit und breit schien sich niemand für ihn und das Geldstück zu interessieren. Einen Augenblick betrachtete er die Münze, ohne zu wissen, was für eine Währung sie darstellte. Dann trat er rückwärts an den Brunnen, kniff die Augen fest zusammen und warf sie mit einer flinken Bewegung über seine Schulter. Dabei konzentrierte er sich auf seinen größten Wunsch. Schnell drehte er sich um und sah gerade noch, wie die Münze in das Wasser eintauchte.
Eine Weile starrte er auf die Stelle, an der das Geldstück verschwunden war. Dann wandte er sich ab und suchte sich einen Weg durch die Menge zur Straße. Eine Reisegruppe drängelte sich ihm entgegen, angeführt von einer asiatisch aussehenden Frau, die einen gelben Regenschirm in die Höhe streckte. Während er sich noch Gedanken darüber machte, warum sie wohl trotz des guten Wetters einen Regenschirm mit sich herumtrug, erreichte er die Straße. Als er seinen Fuß auf das Kopfsteinpflaster setzte, vernahm er ein Geräusch, das er von Mumbais Straßen nur allzu gut kannte. Ein Geräusch, das augenblicklich seinen Überlebensinstinkt aktivierte und dazu führte, dass sich in Sekundenbruchteilen alle Muskeln seines Körpers anspannten, um ein während der vielen Jahre auf der Straße antrainiertes Verhaltensmuster ablaufen zu lassen. Kaum hatte er die Spitze seines Schuhs aufgesetzt, schnellte er in einem Reflex zurück, als bestünde der Straßenbelag aus glühender Lava.
Noch in derselben Sekunde sauste, begleitet vom Aufröhren eines Motors, eine dunkel gekleidete Gestalt auf einem Motorroller an ihm vorbei. Der Helm des Fahrers schlug dabei hart gegen seine linke Schulter, und der Luftzug streifte sein Gesicht wie eine Ohrfeige. Der Schlag ließ ihn das Gleichgewicht verlieren, und er stürzte rückwärts zu Boden. Hauptsächlich sein Hinterteil musste unter der Wucht des Aufpralls leiden, und noch während er zur Seite abrollte, folgte sein Blick der Vespa, deren Fahrer sich einmal kurz nach ihm umdrehte, um dann mit Vollgas in einer der Gassen zu verschwinden. Langsam rappelte er sich auf, drehte den Kopf zur Seite und betrachtete seine zerrissene Hose. Anschließend hob er sein T-Shirt an und begutachtete seine Schulter, auf der schon jetzt ein halbrunder rot-blauer Abdruck zu erkennen war. Sein rechter Arm hat eine Schramme abbekommen.
Er blickte sich um, doch keiner der Passanten in seiner Nähe schien etwas mitbekommen zu haben. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich seine Schulter. Er hätte schwören können, dass der Fahrer des Rollers mit Absicht auf ihn zugehalten hatte. Doch wer sollte ihm hier etwas tun wollen. Er kannte niemanden in dieser Stadt. Mit Ausnahme der Britin und deren Freund. Und beide würden wenig begeistert sein, wenn sie sahen, was mit seiner neuen Hose passiert war.
71
B ERLIN , 1764
Hainchelin zog mit der Feder einen langen Schlussstrich.
»Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen. Ich habe mich nicht verrechnet. Es bleibt ein Verlust!« Er legte die Feder beiseite, verschränkte die Arme und warf Calzabigi, der sich vor ihm aufgebaut hatte, einen trotzigen Blick zu.
»Das kann nicht sein!«, brüllte Calzabigi und wischte mit seinem Ärmel die Papiere samt Tintenfass und Feder vom Tisch. »Ihr seid ein Zahlenverdreher!«
Schwer atmend stützte er sich mit seinen Händen auf dem Schreibtisch ab und stierte Hainchelin an, der sich verängstigt gegen die Rückenlehne seines Stuhls drückte. Für einige Sekunden verharrte Calzabigi so, dann senkte er das Kinn auf seine Brust.
»Die letzte Ziehung soll also eine Blamage gewesen sein«, murmelte er. »Niemand wird nun in die Lotterie investieren wollen. Niemand! Wie soll ich die Pacht nur zusammenbekommen?«
»Überlasst es anderen. Reicheren. Glücklicheren. Bevor Ihr alles verliert«, bemerkte Hainchelin vorsichtig.
Calzabigi verharrte bewegungslos in seiner Position. Nur sein Schnaufen verriet seine Wut.
»Und unterstellt mir keine Ränkeschmiederei«, wagte der Hofrat nunmehr zu sagen. »Ich zähle nur. Wenn Ihr Euch Sorgen um Intrigen macht, dann fangt lieber an, bei Euch zu Hause zu suchen.«
Calzabigi schaute auf, ohne etwas zu sagen.
»Ich beobachtete, wie dieser Casanova Eurer Gemahlin ein Bündel übergab«, fuhr Hainchelin fort. »Sie wirkten sehr vertraut, wenn Ihr versteht, was ich meine. An Eurer Stelle würde ich mich darum kümmern, statt mich
Weitere Kostenlose Bücher