Das Los: Thriller (German Edition)
noch von einer dazu autorisierten Person übersetzt werden müssten. Solange würde er im Carcere di Regina Coeli verwahrt. Diese Aussagen waren von einem Mitarbeiter der deutschen Botschaft bestätigt worden, der ihn besucht und ihm sogar ein paar Süßigkeiten mitgebracht hatte. Nun galt es zu warten und darauf zu hoffen, dass die Zeit schnell verging – eine Beschäftigung, die er bis zur Perfektion gelernt hatte.
Während er die Feuchtigkeitsflecken an der Zellendecke zählte, verfluchte er seine eigene Dummheit. Er hätte wissen müssen, dass Trisha ihn verraten würde. Er konnte ihr noch nicht einmal böse sein. Als sich ihre Blicke am Flughafen kreuzten, während er in Handschellen abgeführt wurde, da hatte er jedoch neben Angst noch etwas in ihren Augen gesehen: Bedauern. Kein Mitleid mit ihm. Nein, ein Teil von ihr bedauerte, dass sie ihn der Polizei ausgeliefert hatte.
Nicht, dass er besonders gut darin war, Gedanken zu lesen. Würde er über diese Fähigkeit verfügen, dann wäre es nicht zu seiner Verhaftung gekommen. Aber wenn er in ihre Augen blickte, dann war es anders. Dann wusste er, welche Gefühlsregungen sich dahinter abspielten. Ja, das war das richtige Wort: »spielen«. Sie war eine Spielerin, und das hatte er unterschätzt. Ihre Welt bestand aus Gewinn und Verlust. Aus einer Aneinanderreihung von Wahrscheinlichkeiten, an deren Ende ein Erfolg oder ein Misserfolg stand. Jetzt, wo sie vor der großen Ziehung stand – dem größten Spiel, an dem sie je teilgenommen hatte –, war er für sie zu einem Faktor verkommen, der bei der Ermittlung ihrer eigenen Gewinnchancen die Zahl auf der »gegnerischen« Seite des Doppelpunktes erhöhen würde. Und diesen Faktor hatte sie am Flughafen elegant aus dem Spiel genommen. Wieder lachte er bitter. Diese Runde ging ohne Zweifel an sie.
»Was wird wohl mit dem armen Inder geschehen«, sagte er leise zu sich selbst.
Er konnte ihr jedoch einfach nicht böse sein. Das war es, was ihn eigentlich beschäftigte. Er ahnte den Grund, und er schob die Ahnung auf eine weitere merkwürdige Knastidee.
Was ihn wirklich ärgerte war, dass er keine Gelegenheit haben würde, an der Lotterie teilzunehmen. Nicht allein wegen der Millionen oder Milliarden, die ihm vielleicht entgingen und die er gern mitgenommen hätte, um in seinem restlichen Leben nachzuholen, was er in den vergangenen Jahren verpasst hatte. Nein. Die Lotterie war der Vogel, der unverhofft in seine Zelle in Santa Fu geflogen war und den er gehegt und gepflegt hatte, bis er seinetwegen sogar ausgebrochen war, um mit ihm davonzufliegen. Und dann hatte er auch noch seine Papagena getroffen.
Nun waren Vogel und Papagena für ihn unerreichbar, und er saß wieder eingesperrt in einem Loch, als einzige Begleiter zwei Knastbrüder und ein paar römische Kakerlaken. Er seufzte.
Das Öffnen der Zellentür riss ihn aus seinen Gedanken.
Zwei Wärter in fremdartiger Uniform, an deren Anblick er sich erst einmal gewöhnen musste, betraten die Zelle, und einer zeigte auf ihn.
»Du. Besuch.«
70
R OM
Pradeep saß auf einer Bank und beobachtete das Treiben um sich herum. Menschen drängelten sich um einen großen Brunnen, aus dessen Wasserbassin Felsen und Meereswesen herausragten. Über allem thronte die Statue eines muskulösen Mannes, den er für die Darstellung eines Gottes hielt. Der Ort schien ein Touristenmagnet zu sein, wie bei ihm zu Hause das Gateway of India in Colaba. Überhaupt war manches in dieser Stadt der seinen ähnlich. Es war zwar etwas kühler und die Luft weniger feucht, aber dennoch warm. Der Verkehr war ziemlich dicht, wenn auch nicht so dicht wie in Mumbai. Allerdings gab es auch große Unterschiede. Vor allem fiel ihm auf, dass es hier überall sauberer war als in seiner Heimat. Seit ihrer Ankunft hatte er noch keine einzige Leiche in der Stadt gesehen. Tatsächlich schien vieles verschieden zu sein.
Staunend verfolgte er ein Ritual, das sich zum wiederholten Male am Brunnen vollzog. Eine Touristin, die um den Hals eine Fotokamera trug, stieg zum Rand des Brunnens herauf, drehte sich um und warf über ihre rechte Schulter mit der linken Hand mehrere Münzen, die augenblicklich im Wasser versanken. Zwischendurch war er einmal aufgestanden und hatte sich davon überzeugt, dass der Grund des Brunnens über und über mit schimmernden Geldstücken bedeckt war. Das wäre in Mumbai vollkommen undenkbar gewesen. Dort, wo er und unzählige andere Menschen sogar Müll aufsammelten, wäre die
Weitere Kostenlose Bücher