Das Los: Thriller (German Edition)
Wie viele Opfer hatte er in Kauf genommen, wie viele Widerstände hatte er überwunden – und am Ende war er doch immer gescheitert. Nicht an sich selbst, sondern an den Intrigen, die andere gesponnen hatten. Die Idee von der königlichen Lotterie war so vollendet, als habe die Natur sie geschaffen. Die Verteilung von Losen an das Volk, von denen jedes einzelne die Erfüllung des Schicksals versprach. Die vor aller Augen vollzogene, nicht durch Menschenhand gelenkte Auserwählung Einzelner aus der Masse. Die Förderung der Monarchie durch die Einnahmen, die wiederum die Verteilung neuer Lose ermöglichte. Es war, als locke man das Schicksal immer wieder aufs Neue aus seinem Versteck, damit es im besten Sinne zuschlagen, das Glück neu unter den Menschen verteilen konnte. Nur er, der als Dompteur der Bestie Schicksal durch die Welt reiste – er ging stets leer aus.
Nun saß er hier. Vom Glück verlassen, von seiner großen Liebe verschmäht. Er schaute auf die Pistole in seiner Hand. Auf der Militärakademie hatte er als junger Mann gelernt, damit umzugehen. Es würde nicht wehtun. Aus Geschichten hatte er erfahren, dass die sicherste Möglichkeit war, sich den Lauf in den Mund zu schieben. Langsam hob er die Waffe und richtete sie gegen sich. Der Lauf fühlte sich auf seinen Lippen kalt an, und er schmeckte das Metall auf seiner Zunge. Der Geruch von Schwarzpulver kitzelte in seiner Nase. Er umklammerte den Griff der Waffe mit beiden Händen, deren Zittern den Pistolenlauf gegen seine Zähne schlagen ließ. Dann kniff er die Augen zu und krümmte den Zeigefinger um den Abzug.
Plötzlich vernahm er fröhliches Gelächter. Er nahm die Waffe wieder aus dem Mund und horchte. Aus dem Erdgeschoss drang eine laute Männerstimme nach oben, gefolgt von einer helleren Stimme und lautem Gekicher. Er zog sich an der Kommode hoch und schlich zur halb angelehnten Tür. Sie quietschte in den Angeln, als er sie vorsichtig öffnete. Die Stimmen wurden lauter. Ohne Zweifel kamen sie aus dem Salon. Aus seinem Salon! Die Pistole in der Hand, ging er auf Zehenspitzen zur Treppe. Seine Ohren hatten ihn nicht getrogen. Während er hier oben in größter Verzweiflung gewesen war und kurz davor gestanden hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen, wurde im Stockwerk unter ihm gescherzt. Vorsichtig ging er die ersten Stufen hinunter. Als er am Treppenabsatz angelangt war, ohne dass das Knarren der Stufen ihn verraten hatte, war er sich sicher: Es war kein anderer als Casanova, der dort in seinem Haus die Stimme erhob. Es brauchte keine besondere Vorstellungskraft, um zu wissen, mit wem er sich dort so köstlich vergnügte. Das letzte Stück bis zur Tür, die in den Salon führte, überbrückte er ebenfalls geräuschlos.
Er presste sein Ohr an das kühle Holz. Nun verstand er, was gesprochen wurde.
»Es kitzelt!«, hörte er Marie sagen.
»Seid unbesorgt, es wird nicht wehtun«, antwortete Casanova fürsorglich. »Vertraut meiner jahrelangen Übung. Es wird nur ein wenig bluten.«
Calzabigi spürte, wie Wut in ihm aufstieg.
»Nicht zu fest saugen!«, rief Marie.
»Nun entspannt Euch, ich öffne Euer Korsett noch ein bisschen. Ich versichere Euch, Ihr werdet Euch hinterher wohler fühlen. Ihr werdet es nicht bereuen!«
Die Finger von Calzabigis linker Hand krallten sich in die Wandtapete. Mit der rechten hob er die Pistole. Der Hahn war noch immer gespannt.
Nun hörte er Marie leise aufstöhnen.
»Ich sagte Euch doch, Ihr werdet es genießen!«, hörte er Casanova sagen.
Seine Muskeln verhärteten sich, als wollten sie aus seiner Haut platzen. Er hatte genug gehört. Mit einem Schrei, als stürme er aufs Schlachtfeld, riss er die Tür auf und stürzte in den Salon. Der Anblick, der sich ihm bot, bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Marie lag bäuchlings auf dem Sofa, ohne Rock, ihr Korsett weit aufgeknöpft. Casanova saß neben ihr, die Hände auf ihrem nackten Rücken. Im Augenblick war er damit beschäftigt, die Schnüre ihres Korsetts zu öffnen.
Calzabigi hob die Waffe und ging mit ausgestrecktem Arm auf die beiden zu. Marie war bei seinem Erscheinen erschrocken aufgefahren und hielt ihre Arme gekreuzt vor der Brust. Casanova blickte ihm nicht minder überrascht entgegen. Wenn Calzabigi in seinem Zorn nicht irrte, schien er ihn sogar anzugrinsen.
»Verräter!«, brüllte Calzabigi zornig und schritt auf den Venezianer zu. »Fahrt zur Hölle!«, rief er, als er sich nahe genug wähnte, und betätigte den Abzug, der
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