Das Los: Thriller (German Edition)
Tisch und nahm sogleich seine Bestellung auf. Wenn man nach Genua kam, musste man Austern essen, wovon er einen ganzen Teller bestellte. Dazu Caviar und gekochte Seekrebse. Ein Kellner brachte eine Karaffe schweren roten Weins, der ihm sogleich in den Kopf stieg. Nicht weit von ihm stand eine Gruppe von fünf jungen Frauen. Sie nippten an Champagnergläsern, tuschelten vergnügt miteinander und schauten immer wieder lachend und augenzwinkernd zu ihm herüber. Er wich ihren Blicken aus. Er war nun schon fast sechzig Jahre alt, und junge Frauen machten ihm wenigstens genau so viel Angst, wie sie ihn anzogen. Selbst wenn er sie bezahlte.
Ihm fiel ein junges Mädchen auf, das etwas abseits von den anderen allein auf einem Stuhl saß. Ihr Gesichtsausdruck war vollkommen ernst, was ihr, im Kontrast zu ihren herumalbernden Kolleginnen, fast etwas Heiliges verlieh. Während er sie beobachtete, bewegte sie sich nicht. Sie trug ein Kleid, das ihren Busen zur Hälfte verdeckte und ihre Schultern frei ließ. Aus der Ferne glich ihre Haut weißem Marmor aus Carrara. Ihr dunkelbraunes Haar war zu einer komplizierten Turmfrisur hochgesteckt, sodass der Betrachter sich ganz auf ihr Gesicht konzentrieren konnte. Es war schmal, und zwischen ihren wohlgeformten Wangen prangten volle Lippen, die ihm so einladend erschienen wie ein aufgeschlagenes Federbett. In ihren dunklen Augen lag allerdings ein tiefer Schmerz. Er hatte in seinem langen Leben bereits viel Traurigkeit erlebt, niemals zuvor war sie ihm jedoch gepaart mit solcher Schönheit begegnet wie im Gesicht dieses Mädchens.
Drei Teller mit Meeresdelikatessen rissen ihn aus seinen Gedanken. Er aß davon und nahm einen weiteren Schluck Wein. Als er erneut nach der traurigen Schönheit schauen wollte, war sie verschwunden. Während er die Austern schlürfte, suchte er den Raum nach ihr ab. Zwei der anderen Damen deuteten seinen suchenden Blick als Aufforderung und schwebten kichernd mit kleinen Trippelschritten zu seinem Tisch. Ihre schiefen Nasen und ihre vernarbte Haut kamen ihm im Vergleich zu dem, was er eben mit seinen Augen gekostet hatte, wie eine Beleidigung vor. Er verscheuchte sie mit harschen Worten und nahm sich den Teller mit den Krebsen vor. Während er die gepanzerten Körper mit einem kleinen Messer knackte und das saftige Fleisch in seinen Mund schob, wanderte sein Blick immer hektischer umher. Er hatte das Gefühl, als ob er etwas Wertvolles verloren hätte, was ihm gehörte.
Endlich fand er sie wieder.
Auf der anderen Seite des Salons lehnte sie an der Wand. Da ihr Kleid dieselbe Farbe wie die kostbare Tapete hatte, wirkte sie wie ein getarntes Chamäleon. Sie durfte ihm nicht wieder entwischen. Schnell säuberte er seine Hände in einer Schale mit Zitronenwasser, trocknete sie mit der Serviette, ließ den Caviar unangetastet stehen, erhob sich und eilte zu ihr hinüber. Ihr Blick war wie der einer Betenden gegen die Decke gerichtet, und so bemerkte sie ihn erst, als er vor ihr stand.
Ihre erschrockenen Augen erschienen von Nahem wie zwei tiefe schwarze Seen, und fast befürchtete er, in sie hineinzustürzen.
»Wie heißt Ihr?«, fragte er sanft und bewegte sich mit solcher Vorsicht, als näherte er sich einem Eichhörnchen, das auf seiner Fensterbank Platz genommen hatte.
»Mein Name ist Marie«, flüsterte sie. Überrascht stellte er fest, dass sie Französin war.
»Ein schöner Name«, sagte er in fließendem Französisch.
Verlegen suchte er nach Worten und blickte dabei zur Seite. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie die beiden Damen, die er eben so uncharmant verjagt hatte, ihn mit spöttischen Blicken bedachten. Er wandte sich wieder dem Mädchen zu. Von seinem ersten Besuch in diesem Etablissement wusste er, dass man die Frauen in die erste Etage begleiten konnte. Seine Rechnung für das Essen und in Anspruch genommene Liebkosungen beglich man beim Verlassen des Hauses.
Er räusperte sich. »Gehen wir auf Euer Zimmer?«, schlug er vor.
Das Mädchen blickte scheu an ihm vorbei zu ihren Kolleginnen hinüber, die die Szene mittlerweile interessiert verfolgten. Sie griff entschlossen nach seinem Handgelenk und zog ihn mit festem Griff zu einer Treppe, die er erst jetzt wahrnahm.
Er spürte, wie ihre Finger seinen Arm umklammerten. Ein Kribbeln breitete sich in seiner Brust aus. Beim Erklimmen der Stufen fiel ihr süßer Duft auf ihn hinab, und ihm wurde schwindelig, was er der Wirkung des Weins zusprach. Endlich erreichten sie das Obergeschoss, wo
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