Das Los: Thriller (German Edition)
Eine Stunde blieb ihr dann, um rechtzeitig zum Start des nächsten Turniers am Spieltisch zu sitzen.
Trisha hatte früher schon oft behauptet, Pokern sei ihr Leben – nun stimmte es mehr denn je.
Als sie heute am Nachmittag wieder unglücklich mit Ass-König ausgeschieden war, hatte sie sich entschlossen, vor dem morgigen wichtigen Tag nach Hause zu fahren. Die Pause würde ihr guttun. Sie gähnte und betrachtete das Buch in ihren Händen. Sie hatte es in irgendeinem Laden am Flughafen gekauft, weil ihr das Cover gefallen hatte, ein hervorstehendes Feuermal mit einem Labyrinth in der Mitte. Bis heute hatte sie noch keine Zeit gehabt, es zu lesen.
Wie sie überhaupt für nichts mehr Zeit hatte. An ihren letzten Kinobesuch konnte sie sich kaum noch erinnern, geschweige denn an ihren letzten Sex. Nach den jüngsten Niederlagen waren ihr Zweifel gekommen. Warum nur hing sie so sehr diesem Spiel nach? Vielleicht sollte sie tatsächlich noch einmal studieren. Oder eine Lehre machen. Sich einen bodenständigen Mann aus Armley suchen und mit ihm eine Familie gründen – Kinder bekommen. Sie rieb sich mit den Händen über das Gesicht, um die Gedanken zu vertreiben. Sie waren nicht hilfreich am Vorabend des wichtigsten Ereignisses der Pokerwelt.
Um sich abzulenken, klappte sie, wie stets, wenn sie ein Buch las, die letzte Seite auf und las das Ende zuerst. Dann blätterte sie zur ersten Seite vor und begann zu lesen. Wieder musste sie gähnen. Die Buchstaben fügten sich vor ihren Augen wie Vogelschwärme zu immer neuen Formationen zusammen und legten schließlich einen schwarzen Schleier über sie. Sie träumte, dass sie beim Zahnarzt saß. Das Geräusch des Bohrers weckte sie.
Sie riss die Augen auf und sah, wie ihr Handy vibrierend über die Oberfläche ihres Nachttisches glitt. Verschlafen griff sie danach. Das Display zeigte elf Uhr neunundfünfzig an, darunter stand der Name des Anrufers: Chad. Sie legte das Telefon zurück und wartete mit geschlossenen Augen, bis das Vibrieren endlich verstummte. Seit jenem Morgen im Hotel hatte sie Chad nicht mehr gesprochen. Ein paar Mal hatte sie ihn bei den Turnieren im Rio gesehen, jedoch immer gewusst, ausreichend Abstand zwischen sie beide zu bringen.
Sie öffnete erneut die Augen. In ihren Ohren vernahm sie das Rauschen ihres Blutes. Auf ihrer Brust lag noch immer das aufgeklappte Buch. Vorsichtig schob sie es zur Seite und streckte sich nach der Nachttischlampe, um sie auszuschalten. Sie wagte nicht, auf die Uhr zu schauen; es würde sie nur nervös machen. Verzweifelt versuchte sie zu schlafen. Sie warf sich im Bett hin und her, deckte sich auf und dann wieder zu, doch seltsamerweise hielt die Dunkelheit sie wach.
Was wollte Chad? Warum rief er ausgerechnet heute Abend an? Brauchte er womöglich noch Geld, um am nächsten Tag die Startsumme aufzubringen? Trieb ihn dies zu einem verzweifelten Versöhnungsversuch? Sie hielt einen Moment die Luft an. Er konnte sie nicht zwingen, sich mit ihm zu beschäftigen, auch nicht in Gedanken.
Sie musste an etwas anderes denken. Poker. Woher kam nur diese Leidenschaft für dieses Spiel? Was trieb sie dazu, ihr Leben an einem Spieltisch zu verbringen? Mitten in der Wüste in einer grotesken Stadt, die aussah, als wäre sie einem Batman-Comic entnommen? Was brachte sie dazu, für ein Pokerturnier ihre Eltern zu belügen und zu betrügen? Sie stöhnte und suchte nach einer kühlen Stelle auf ihrem Laken. Sie musste auch diese Überlegungen verdrängen. Sie versuchte, sich das Ende des Buches, über dessen Lektüre sie eingeschlafen war, in Erinnerung zu rufen. Und als ihr in diesem Moment bewusst wurde, wie merkwürdig es war, das Lesen eines Buches mit dem Ende zu beginnen, verstand sie plötzlich, warum sie Poker spielte. Es war Ungeduld. Genauso wenig wie sie eine Geschichte ertragen konnte, ohne vorher zu wissen, wie sie ausgeht, genauso wenig konnte sie ihr Leben ertragen, ohne zu wissen, ob es am Ende ein glückliches oder unglückliches werden würde.
Seit sie ein Teenager gewesen war und verstanden hatte, dass hinter dem Schulgebäude eine Welt begann, die gut, aber auch böse sein konnte, quälte sie die Angst, dass das Leben für sie nichts Gutes vorgesehen hatte. Seitdem stellte sie sich die eine, alles entscheidende Frage, ob sie einmal glücklich werden würde. Sie wollte nicht darauf warten, bis die Zeit ihr darauf eine Antwort gab. Wollte sich nicht gedulden, bis sie an ihrem Lebensende eine Bilanz aufstellen konnte.
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