Das Los: Thriller (German Edition)
verstand, weil der immer noch in Leipzig weilende König ihm per Kurier bereits die französische Fassung zugestellt hatte. Im Sommer, so war in dem Artikel angekündigt, solle die erste große Ziehung auf der Rampe vor dem Lottoamt in der Wilhelmer Straße erfolgen.
Es war kein Zufall, dass die Bekanntgabe des von allen herbeigesehnten Friedensschlusses und der Lotterie am selben Tag erfolgten. Der König hatte in dem von ihm verfassten Lottopatent explizit auf die vergangenen Schreckensjahre des Krieges Bezug genommen. Nach dessen Ende, so hatte er in der Patentschrift für das Volk formuliert, müsse man nun an die nützlichen Verschönerungen, die Aufmunterung der Kräfte und des Fleißes und den Fortgang der Manufakturen denken. Um die Finanzmittel dafür zu beschaffen, sei das Lottospiel, so der König, unter allen Hilfsmitteln, die man ihm vorgelegt habe, das geeignetste und für das Volk schonendste. Dieser Satz machte Calzabigi besonders stolz: Der Siebenjährige Krieg endete in Preußen mit der Verkündung seines Lottospiels. Die Geschichte des so langen und grausamen Krieges schloss ihn, den Italiener aus Livorno, auf diese Weise im positivsten Sinne mit ein. Der König hatte diesen 5. März zum Tag des Glücks ausgerufen, und er, Calzabigi, war ein wichtiger Bestandteil davon.
Friede und Lotto – was gab es Glücklicheres?
Die Liebe.
Calzabigi legte die Zeitung beiseite und griff nach einem Brief, der auf seinem Schreibtisch lag. Ausgerechnet an diesem ohnehin schon schönen Morgen hatte er auch noch einen Brief von seinem alten Freund Signore Brea aus Livorno erhalten. Dieser hatte darin angekündigt, in Genua »eine Venus« für ihn angeworben zu haben, die schon bald auf dem Weg nach Berlin sei und noch vor Monatsfrist eintreffen werde, so das regnerische Wetter es zulasse. Ihr Name sei Marie Belangere. Signore Brea hatte seinem Brief ein kleines Bild beigefügt, wie es in seiner Heimat als Einlage für Medaillons gefertigt wurde. Es zeigte eine wunderschöne junge Frau. Die Dame auf dem Bild, so hatte Signore Brea geschrieben, sei nicht die zukünftige Signora di Calzabigi. Diese sei aber so ziemlich genau eintausend Mal schöner als das weibliche Geschöpf auf dem mitgesandten Porträt, sodass man bei dessen Betrachtung dennoch eine gute Vorstellung entwickeln könne, welche Grazie er ihm geschickt habe.
Calzabigi musste bei diesen Worten schmunzeln. Er hatte mehr als einmal erlebt, wie Signore Brea über Frauenzimmer mit denselben ausschmückenden Übertreibungen sprach, mit denen er seine Seide anpries. Er wäre schon zufrieden, wenn die Signorina, die zukünftig sein Haus hüten sollte, nur annähernd so anmutig aussah wie die Frau auf der kleinen Zeichnung in seiner Hand. Er steckte das Bildnis in seinen Gehrock und beschloss, es als Glücksbringer bei sich zu tragen, bis der Engel, den Signore Brea ihm angekündigt hatte, ihm wirklich erschien.
Er hatte das ihm vom König zugewiesene Haus zwischenzeitlich bezogen und spürte dort in jeder Sekunde das Fehlen einer weiblichen Haushaltung. Die Nachricht, dass er schon bald eine Frau an seiner Seite haben würde, beschwingte ihn noch mehr. So stand er nun an diesem Tag des vollkommenen Glücks in seinem Arbeitszimmer im General-Lotterieamt und bereitete sich auf seinen bevorstehenden Auftritt vor. Durch das hohe Fenster hinter ihm hatte er beobachtet, wie seit einer guten halben Stunde ohne Unterlass immer wieder Kutschen vor dem Amt hielten, denen Männer jeden Alters, zumeist einzeln, manchmal aber auch in kleinen Gruppen entstiegen und in die Räumlichkeiten unter ihm eilten. Vom Flur vor seiner Tür drangen nun immer stärker die aufgeregten Gespräche der Wartenden zu ihm. Ein Blick auf die große Wanduhr zeigte ihm, dass es Zeit war, und nachdem er seine Kleidung noch einmal überprüft hatte, machte er sich auf zu seiner bislang wichtigsten Aufgabe als Lottodirektor.
An einem der langen Abende, an denen die Größe seines neuen Zuhauses ihm das ganze Ausmaß seiner Einsamkeit vor Augen führte, hatte er in der Bibliothek, die der Vorbesitzer zurückgelassen hatte, nur ein Buch in französischer Sprache gefunden, und dies war ein Buch über Bienen gewesen. Während des Lesens war ihm bewusst geworden, dass die Lotterie ein bisschen wie ein Bienenstock funktionierte. Im Bienenstock herrschte die Königin, und die Arbeitsbienen schwärmten in alle Himmelsrichtungen aus, um für ausreichend Nachschub an Nektar zu sorgen. In der Lotterie
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