Das Los: Thriller (German Edition)
gab es den König. Was im Bienenstock der Nektar war, war beim Lotto di Genova das Geld. Mit ihm wurden alle gefüttert, vom König bis zu den Gewinnern, und nicht zuletzt er selbst. Vorausgesetzt, es gab genügend davon.
Das Sammeln des Geldes, und somit die Aufgabe der Arbeitsbienen, übernahmen in der Lotterie die sogenannten Kollekteure. Sie würden zukünftig die Lose im ganzen Land verkaufen und nach den Ziehungen die Gewinne an die Teilnehmer auszahlen. Siebenundvierzig Lottokontore hatte er in den vergangenen Wochen unter Hochdruck im gesamten Königreich einrichten lassen. Nicht nur in Berlin, sondern auch in den Provinzen bis hinauf nach Königsberg. Den Besitzern der Kontore hatte er, in Absprache mit dem König, Gewinnbeteiligungen an ihren Einnahmen versprochen. Hainchelin hatte die Prozente allerdings noch einmal nach unten korrigiert. Er hatte sich, wie von Calzabigi seit dem ersten Treffen befürchtet, als nutzlose Drohne im Bienenstock der Lotterie entpuppt und behinderte ihn in seiner Arbeit, wo er nur konnte. Bei Gelegenheit musste er unbedingt beim König vorsprechen und versuchen, den Besserwisser loszuwerden.
Heute nun war der Tag gekommen, an dem er die Kollekteure in seinem Amt versammelt hatte, um ihnen höchstpersönlich die Regeln des Preußischen Lottos zu erklären. Nur wenn sie, als die künftigen Botschafter seines Spiels, dessen ganzes Ausmaß begriffen, waren sie in der Lage, ausreichend Loskäufer zu werben. Von ihnen hing alles ab.
Er öffnete die Tür seines Arbeitszimmers und lauschte. Tatsächlich erinnerte das Gewirr der vielen Stimmen, das von unten zu hören war, an das Summen eines Bienenschwarms. Er ging den kurzen Dielengang bis zur Treppe und stieg die steilen Holzstufen hinab. An deren Fuße angekommen, gab er dem Lakai an der Eingangstür ein Zeichen, dass man nun beginnen konnte, und steuerte auf die offene Tür des großen Saals zu. Das Lottoamt war zuletzt als Lagerhaus genutzt worden, und bei den erforderlichen Umbauten hatte man den rechten Teil des Parterres als einen einzigen großen Raum belassen. Zukünftig sollten dort die aus der Druckerei angelieferten Fliegenden Blätter mit der Werbung und vor allem die Losbillets sortiert, verpackt, gelagert und an die Lottokontore ausgeliefert werden. Heute hatten die sechs faulen Lakaien, die der König ihm als Helfer zugeteilt hatte, den Saal leer geräumt und aus der nahe gelegenen Berliner Oper sechzig Stühle herbeigeschafft.
Nachdem er den Raum betreten hatte, dauerte es eine Weile, bis alle Losverkäufer ihre Plätze eingenommen hatten. Erst auf mehrmaliges Rufen der in der ersten Reihe Sitzenden kehrte endlich Ruhe ein. Einige der Anwesenden kannte Calzabigi flüchtig, der es sich nicht hatte nehmen lassen, selbst das Land zu bereisen, um geeignete Pächter für die Lottokontore auszuwählen. Andere waren von Hainchelin eingesetzt worden, die Einnehmer in den weiter entfernten Provinzen hatte man auf dem Postwege erwählt.
Calzabigi begab sich zum Kopfende des Saals. Er ließ seinen Blick über die Sitzreihen wandern, und ihm gefiel, was er sah. Hatten die Menschen um ihn herum vor wenigen Wochen noch wie flüchtige Kohleskizzen ihrer selbst gewirkt, so schien nun jemand mit dicken Pinselstrichen die Farbe aufgetragen zu haben, und er schaute in ausnahmslos fröhliche Gesichter mit vor Aufregung glühenden Wangen und leuchtenden Augen. Die Erschienenen hatten die Erregung, die die Straßen Berlins heute ergriffen hatte, mit in diesen Saal hineingetragen, und dies war genau die Stimmung, die Calzabigi für seine Ansprache benötigte.
Zufrieden nahm er auch zur Kenntnis, dass Hainchelin nirgends zu erblicken war. Dessen Fehlen bei dieser Veranstaltung zu arrangieren, hatte ihn einiges an Mühe und obendrein einen halben Taler gekostet. Schon vor Tagen hatte er einen Läufer mit einem anonymen Brief zu Hainchelin geschickt, dessen Verfasser niemand anderes als er selbst gewesen war. Calzabigi sah auf die Uhr. Es war kurz nach drei. Wenn alles wie geplant vor sich gegangen war, irrte Hainchelin just in diesem Augenblick durch die Parkanlagen von Sanssouci und hielt nach dem vermeintlichen Informanten Ausschau. Bei Gelegenheit würde er, Calzabigi, dem König von Hainchelins unbegründetem Misstrauen gegenüber sei ner Person berichten, und der von Niedertracht geleitete Ausflug vom heutigen Tage würde ihm als eines von vielen Beispielen dienen. Niemand würde jemals erfahren, dass er es selbst inszeniert
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