Das Los: Thriller (German Edition)
Kartenspiel.
Wer weiß, dachte er. Hätte Fortuna ihm damals eine Chance gegeben, würde er heute vielleicht in Kanada Lachse fangen.
Die Tür zu seiner Zelle quietschte lauter denn je, als er sie öffnete.
18
B ERLIN , 1763
Ein Gefühl wie nach glücklich überstandener Krankheit hatte die Einwohner der Stadt erfasst.
Calzabigi hielt die heutige Ausgabe der Berlinischen Nachrichten in den Händen. Die Zeitung präsentierte ihren Lesern an diesem frühlingshaften Samstag gleich zwei sensationelle Neuigkeiten. Auf der ersten Seite der Zeitung wurde die Medizin, die alle heilte, verabreicht: der vor gut zwei Wochen auf der Hubertusburg mit den Nachbarn geschlossene Friedensvertrag.
Calzabigi hatte vom Ende des Krieges schon vorab durch den Hofrat Hainchelin erfahren, mit dem er sich mittlerweile zweimal wöchentlich zur Vorbereitung der Lotterie traf. Seine anfänglichen Befürchtungen waren dabei noch übertroffen worden. In Italien nannten sie einen Erbsenzähler wie ihn Pignolo . Hainchelin wurde nicht müde, zu betonen, dass »alles seine Ordnung« haben müsse. Schon bald hatte Calzabigi erkannt, dass Hainchelin darauf aus war, die Welt und somit auch das Lottospiel in ein riesiges Archiv umzuordnen, dessen alleiniger Verwalter er war. So teilte er alles in Abteilungen und Vorgänge ein, die er mit Nummern versah. Dazu erfand er allerlei Vorschriften und Regelungen, die es anschließend zu befolgen gab. Noch schlimmer war aber, dass er in Calzabigi, »dem Italiener«, die größte Gefahr für seine Ordnung sah. Mehr als einmal hatte er ihm einen Vortrag gehalten, dass ihm bedauerlicherweise »das Preußische« fehle und es wohl an ihm, Hainchelin, sei, ihm dies einzupflanzen. Und einmal hatte der Hofrat auf Deutsch hinzugefügt, dass dies so sehr möglich sei, wie aus einem dummen Esel ein Kavalleriepferd zu formen. Calzabigi war dies später von einem zufällig anwesenden Adjutanten zugetragen worden, der ihm jene Worte übersetzt hatte.
An diesem Vormittag hatte sich Calzabigi wieder an diese Äußerung erinnern müssen, als er unvermittelt der Kavallerie des Königs gegenübergestanden hatte.
Um Punkt zehn Uhr war der Hof-Staatssekretär Schirrmeister als Herold verkleidet auf einem Schimmel – in Begleitung von Husaren, Paukern und Trompetern – längs der Spree und der Petrikirche durch die Breite Straße nach dem Königlichen Schloss geritten und hatte den Friedensschluss ausgerufen. Calzabigi hatte den Weg des farbenprächtigen Umzugs auf dem Wilhelmsmarkt gekreuzt. Dabei hatte ihn weniger die aus dunkelblauem Samt bestehende, reich mit Gold bestickte und mit breiten, goldenen Tressen und Frangen besetzte Kleidung des lächerlich wirkenden Staatssekretärs beeindruckt, als vielmehr das ihn begleitende Detachement Gens’Armes.
Das Reiterregiment des Königs war über die Grenzen Preußens hinaus berühmt und ebenso gefürchtet. Selbst in London hatte man sich fernab vom Schlachtgeschehen wahre Wunder von den Kriegstaten des Kürassierregiments erzählt. Calzabigi war während seines Aufenthalts in Berlin bereits ein paar Mal an den großen Stallungen am Gendarmenmarkt vorbeigekommen, ohne jedoch die Reiter in Gardeuniform zu Gesicht bekommen zu haben.
Während er die neben dem laut ausrufenden Staatssekretär in Reih und Glied aufgestellten Reiter betrachtete, hatte er vergeblich nach dem Geheimnis ihres Ruhms gesucht. Die Pferde waren stolze Tiere, verfügten aber wie ihre Artgenossen ebenfalls nur über vier Beine, und die Kürassiere saßen in ihren Sätteln wie andere Reiter auch. Je länger er die Pferde mit ihrem hohen Stockmaß, dem ausdrucksvollen, mittelgroßen Kopf, den breiten Schultern und den erstaunlich kurzen Rücken angestarrt hatte, umso klarer war ihm geworden, dass sie nichts Besonderes an sich hatten – außer ihrem legendären Ruf. Dies bestätigte ihn in seinem Grundsatz, den er für sein Lottospiel bereits seit längerer Zeit verfolgte: Es kam nur darauf an, wie über etwas gesprochen wurde, und nicht, wie etwas wirklich war.
Calzabigi blickte erneut in die Zeitung. Die zweite, für ihn viel bedeutsamere Nachricht des Tages fand sich auf Seite drei der Berlinischen Nachrichten . Dort hatte der Verleger das »Patent betreffend eine Königlich Preußische Lotterie« in aller Ausführlichkeit abgedruckt.
Nachdem Calzabigi dem Bad in der Menge in den Straßen entstiegen war, überflog er im General-Lotterieamt das in deutscher Sprache verfasste Patent, dessen Inhalt er nur
Weitere Kostenlose Bücher