Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
meine Kraft.
Wie in Trance steuerte ich den Wagen nach Wölfis. Gemeinsam mit unserem armen, ohnmächtigen Vater weinten wir und besprachen, wie wir Schwestern uns im Wechsel mit ihm um unsere Mutter kümmern konnten. Mein Vater wollte nach wie vor hoffen.
Was eigentlich geschehen war, erscheint mir bis heute unbegreiflich. Mein Vater hat den dramatischen Verlauf in einem Brief festgehalten:
Am 13. Oktober 1992 feiert mein Vater in kleiner Runde seinen Geburtstag. Zwei Tage später ist der Operationstermin angesetzt. Am 16. Oktober besucht mein Vater die Mutter im Krankenhaus, sie ist bei Bewusstsein, spricht leise und wirkt sehr erschöpft. Ihm fällt auf, dass sie die Lippen immer wieder aufeinanderpresst, offenbar starke Schmerzen hat. Die Zimmernachbarin erzählt, die Ärzte seien besorgt, fürchten eine Embolie.
Doch erst am folgenden Tag meldet sich das Krankenhaus bei meinem Vater. Komplikationen seien aufgetreten, sie würden ihn gerne zu einem Gespräch in die Klinik bitten. Dort unterbreitet man ihm den Vorschlag, meine Mutter nach Erfurt zu verlegen. An der Medizinischen Akademie Erfurt sei eine intensivmedizinische Behandlung möglich. Mein Vater stimmt zu.
Am 18. Oktober wird Mutter verlegt und sofort erneut operiert. Der zuständige Professor erklärt meinem Vater und meiner Schwester Anita am darauffolgenden Tag, dass ihm beim Öffnen des Bauchraums Gallenflüssigkeit entgegengekommen sei. Das Schlimmste sei eingetroffen, die Schnur zum Abbinden lag daneben.
Was hatten diese Schlamperärzte im ersten Krankenhaus getan? Waren sie besoffen oder nur unaufmerksam und unfähig? Aus dem späteren Gutachten weiß ich, dass bei einer Gallenoperation der Gallengang zur Vorsicht zweimal abgebunden werden muss. Das war offensichtlich versäumt worden!
Die Mutter lag unwiderruflich im Koma, obwohl die Ärzte in Erfurt ihr Möglichstes taten. Am 2. November 1992 erlitt sie einen Herzstillstand. Im Nachhinein schickte ihr den der Himmel. An ein weiteres Leben war nicht mehr zu denken, höchstens angeschnallt an Geräte. Soll das Leben sein? Die Ärzte trauen sich oft nicht, die Apparate abzustellen, aber ich bin gegen eine aussichtslose Lebensverlängerung.
Zwanzig Minuten lang wurde meine Mutter wiederbelebt, dann atmete sie tatsächlich wieder. Doch das Gehirn hatte sich bereits verabschiedet, es waren keine Gehirnströme mehr messbar. Die Ärzte schalteten dennoch die Geräte nicht ab, erst nach und nach. Einen langen Monat ging das so. Erst dann durfte sie aufhören zu atmen.
Für mich war sie schon an jenem 2. November gegangen. Es ist erstaunlich, wie sich der Mensch verändert! Wenn ich in dieser Zeit in ihr Zimmer kam, hatte ich das Gefühl, nicht mehr meine Mutter vor mir zu haben, sondern nur noch eine Hülle. Ihre Seele war fortgeflogen.
Welch qualvolles Ende, geschuldet unaufmerksamen, verantwortungslosen, unfähigen Ärzten!!
Die Beerdigung war im Dezember 1992 an einem trüben Tag, trüb wie meine Stimmung. Unser Vater litt sehr, und der Krebs, der sich bei ihm eingenistet hatte, verschlimmerte sich jetzt zusehends.
Die Trauerphase schlug um in Wut und Verzweiflung. Rechtsanwalt Hubert Dreyling, der mir schon beim Fall »Pankow« geholfen hatte, bot seine Unterstützung an. Ich verklagte den Arzt, der meine Mutter operiert hatte, wegen fahrlässiger Tötung. Unsere Recherchen hatten ergeben, dass im ersten Krankenhaus eine postoperative Versorgung nicht stattgefunden hatte. Man hatte abgewartet, wichtige Zeit war verloren gegangen, und dann hatte man sie mit dem lapidaren Vermerk »Verdacht auf Lungenentzündung oder Hirnembolie« nach Erfurt überwiesen. In seinem Schreiben an die Staatsanwaltschaft am Landgericht Erfurt hielt Hubert fest: »Die postoperative Nachsorge nach einem abdominellen Eingriff wurde grob vernachlässigt. Aus medizinischer Sicht hätte die gallige Peritonitis nach 24 Stunden erkannt werden können und müssen, stattdessen wurde – auch in der Folgezeit – keinerlei Diagnostik des operierten Bauches vorgenommen. Die freie Gallenflüssigkeit (3 Liter) hätte man im Bauch unbedingt erkennen müssen. Und folglich die lebenserhaltende zweite Operation durchführen müssen.« Laut OP-Bericht von Professor Gottschall in Erfurt hatte sich ein Faden im Gallenstumpf gelöst – eine zweite Naht war ja unterblieben –, wodurch Gallenflüssigkeit in die freie Bauchhöhle getropft war und die tödliche Peritonitis ausgelöst hatte.
Wir waren entsetzt. Ein Mensch wird
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