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Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)

Titel: Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Fischer , Manfred Maurenbrecher
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begeben, eigentlich kein Grund zur Sorge heutzutage. Sie war inzwischen zweiundsiebzig Jahre alt und bis auf ein paar kleinere Geschichten rundherum gesund. Mein Schwager Volker, der Arzt, hatte ihr allerdings von einer Operation abgeraten. In ihrem Alter müsse man die Risiken und die Chancen auf Heilung abwägen. Aber meiner Mutter hatten die Gallensteine zuletzt so zugesetzt, dass sie sich für einen Eingriff entschieden hatte. Außerdem vertraute sie den Halbgöttern in Weiß in einem nahe gelegenen Krankenhaus.
    Warum sie ausgerechnet dorthin gegangen war, statt eine Klinik in Erfurt oder Gotha aufzusuchen? Für mich ist das heute noch ein Rätsel. Vermutlich weil es sich um eine Routinesache handelte, nicht um eine Operation auf Leben und Tod.
    Ich stand starr vor dem Telefon, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Wir waren mitten im Produktionsprozess, das Album wollte fertiggestellt sein, ich konnte meine Partner nicht hängen lassen. Ich versuchte, diese beunruhigende Nachricht erst einmal zu verdrängen. Sie war im Krankenhaus sicher in guten Händen. Außerdem war ich nicht die einzige Tochter, zwei meiner Schwestern wohnten mit ihren Familien ganz in der Nähe. Meine Mutter hatte mir oft das Gefühl gegeben, sie sei einsam, und versucht, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Sie brauchte Zuwendung und Aufmerksamkeit wie jeder andere Mensch auch. Konnte ich ihr als reisende Künstlerin überhaupt je gerecht werden? Vor allem jetzt, wo sich alles im Umbruch befand? Meine Ehe, die Sorge um Benjamin, der neue Vertrag, der erfüllt werden musste … Alles zerrte an mir. Nein, ich flüchtete mich in den Gedanken, dass es nicht so schlimm sein und sie bald wieder gesund werden würde.
    Aber mit einem Kloß im Hals und traurigen Gedanken im Kopf singt es sich schlecht. Ich musste mich sehr zusammennehmen, die Arbeit zu Ende zu bringen, während meine innere Unruhe wuchs. So bald wie möglich wollte ich nach Thüringen. Ich befand mich am anderen Ende der Republik, von Ahrenshöft nach Erfurt sind es um die 550 Kilometer.
    In Höchstgeschwindigkeit schafften wir es, das gesamte Album fertigzustellen. Bereits zwei Tage nach dem Anruf fuhr ich mit Gerulf zurück nach Berlin. Aus der schönen Studioatmosphäre ins Nirvana. Was würde mich in Thüringen erwarten?
    Nichts Gutes! Meine Mutter war inzwischen nach Erfurt verlegt worden. Sie lag auf der Intensivstation – im Koma. Gemeinsam mit meiner Schwester Kerstin machte ich mich auf den Weg. Die Autobahn nach Thüringen war damals in einem schrecklichen Zustand, Baustelle reihte sich an Baustelle, überall Staus und Umleitungen. Schon in Jena musste ich abfahren, mitten im Berufsverkehr durch die enge Stadt. Mit jeder Ampel, mit jedem Stau wurde ich ungeduldiger – je länger die Fahrt dauerte, umso weniger hielt ich mich an die Verkehrsregeln. Ich hatte rasende Angst um meine Mutter. Das Schreckensbild stand vor mir, sie könnte sterben, während wir unterwegs waren.
    Völlig erschöpft kamen wir nach fünf Stunden Fahrt in Erfurt an. Normalerweise fahre ich von Berlin aus höchstens drei Stunden.
    Im Krankenhaus hieß es Hände waschen, desinfizieren, Schutzkleidung und Haube aufsetzen, erst dann durften wir auf die Intensivstation. Ein Arzt sprach mit uns: Sie war im Koma, der Zustand wenig ermutigend. Gallenflüssigkeit war in den Bauchraum getreten und hatte andere Organe angegriffen.
    Ich schwankte zwischen Verzweiflung und Zusammenreißen. Tief einatmen, Luft holen, stark sein. Beim Eintritt in ihr Zimmer allein schon der Geruch. Dazu das Dauergeräusch der Geräte, dieses Piepsen. Mir blieb fast das Herz stehen. Wie sollte meine Mutter das ertragen, wenn sie es mitbekam? Sie lag da ohne Reaktion, ganz verkabelt, überall hingen Schläuche. Wie verhält man sich, was sagt man? Mutter, wie geht es dir? Wie lächerlich kommt man sich dabei vor! Plötzlich liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Kerstin und ich standen ohnmächtig da. Ich streichelte ihre Hand und hätte am liebsten losgeheult. Ich wollte sie abhängen von all diesen lärmenden Geräten, sie mitnehmen, »befreien«. Aber wir konnten nichts tun, mussten wieder aus dem Zimmer.
    Im Auto dann hatte ich einen Nervenzusammenbruch, weinte, ohne mich beruhigen zu können. Ich wusste plötzlich, dass sie ohne Abschied gehen würde. Sie würde nicht wieder aufwachen, und ich würde ihr nicht mehr sagen können, wie sehr ich sie liebte und wie viel ich ihr verdankte. Ihrer Liebe, ihrem Vertrauen in

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