Das Lügenlied vom Glück: Erinnerungen (German Edition)
des Vaters hat den Umzug nicht verkraftet, aus der Bahn geworfen wie sein Herrchen. Da kommt er auch schon wieder und faucht. Sie zieht die Füße hoch.
Sie sitzt gekrümmt in dem kleinen Sessel, in den sie sich geflüchtet hat nach einem langen Abend, und knipst die Leselampe an. Ein Abend mit einem eher wortkargen Essen, an dessen Ende sie sich hat Maßregelungen anhören müssen, weil wieder irgendetwas nicht gestimmt hat, nicht am richtigen Platz war.
Dieses Nicht. Immer öfter herrscht es als Vorwurf in der neuen, noch nach Beton riechenden Wohnung. Sie blickt sich seufzend um und fürchtet, dass es so richtig wohnlich hier nicht mehr werden wird. Der Eigentümer hat zwar bis zur Erschöpfung geplant und gesorgt. Aber ein Zuhause sind die neuen vier Wände noch nicht für ihn. Auch nicht für seine vier Töchter, die abwechselnd versuchen, ein wenig Heimeligkeit herzustellen, den Haushalt zu führen, Chaos und Leid einzudämmen. Immer bescheidener werden ihre Ansprüche. Recht machen können sie wenig, weder dem Vater noch dem vom Umzug verrückt gewordenen Kater.
Im Flur stehen immer noch die Holzbretter an die Wand gelehnt, sie sollten eine Essecke abteilen und Gemütlichkeit zaubern. Wie schnell wäre dem Tischlermeister früher solch eine Arbeit von der Hand gegangen. Jetzt setzen die Bretter Staub an und geben dem Flur die Anmutung eines Lagerraums.
Eine neue Frau, so der Wunschtraum des Vaters, hätte hier alles verändern sollen, zum Besseren wenden, ihm das Gefühl geben, noch nicht zum alten Eisen zu gehören. Die Einladung, den Lebensabend doch im Haus eines der Kinder zu verbringen, hat er dankend ausgeschlagen. Aber wo hätte die neue Frau herkommen sollen? Es gab sie nicht. Als Ersatz hat er wohl in letzter Zeit manchmal gehofft, eine der Töchter könnte hier mitwohnen. Gesagt hat er so was nie. Schwach und hadernd liegen die Nerven blank an seinen schlimmeren Tagen mit den unerträglichen Schmerzen.
An guten Tagen weiß sie genau, dass der Vater so nie sein wollte. Zum ersten Mal, muss sie denken, ist er nicht mehr Herr des Geschehens. Keine Werkstatt mehr, in die er sich zurückziehen kann, keine Bienenstöcke mehr und noch nicht mal die Größe der alten Räume. Alles ist ins Wanken geraten, steht auf der Kippe. Was weiß sie schon, wie es sich anfühlt, diese Krankheit auszustehen mit dem möglich nahen Ende?
Der rote Kater hat ihren Stuhl umkreist, dann es sich zu ihren Füßen bequem gemacht. Erstaunlich, er schnurrt sich tatsächlich ein. Wie oft hätte sie sich gewünscht, dass der Vater mal eine von ihnen im Arm gehalten und so etwas gesagt hätte wie: Ich liebe dich. Ich bin dir gut. Nicht dauernd, aber doch manchmal. Auch ihm hätte das gutgetan, denkt sie, nicht nur uns Kindern.
Sie spürt genau, dass der Kater, wenn sie jetzt nach ihm griffe, um ihn zu streicheln oder hochzuheben auf ihren Schoß, sofort fauchen und nur wie angestochen wegspringen würde …
Vielleicht gelingt es dem Vater ja doch noch mal, denkt sie, wieder gesünder zu werden und sich die neuen Zimmer hier ganz für sich einzurichten.
Sich noch einen Abschnitt vom Leben zu schaffen.
Ein dumpfer Schlag reißt sie aus ihren Gedanken. Sie springt auf, läuft über den Flur Richtung Schlafzimmer. Als sie die Tür öffnet, sieht sie ihn vor dem Bett liegen. Es ist dunkel, nur ein Lichtstrahl aus dem Flur dringt ins Schlafzimmer. Eine unangenehme Situation für beide. Er hat aufs Klo gehen wollen und ist gefallen. Jetzt beugt sie sich über ihn, fasst unter die Arme, um ihn hochzuziehen, er stöhnt vor Schmerzen. Für einen kurzen Moment Scham und Ohnmacht. Sie hebt ihn hoch.
Mit einer ungekannten Kraft schafft sie es, den alten Mann zu bringen, wohin er will.
Aber er will das eigentlich gar nicht.
Es ist nichts mehr da, er ist nicht mehr da – sie erschrickt bei dem Gedanken. Die Kindheit, das sind Mutter und Vater gewesen, das Haus in der Hinterziel, die Räume mit ihren Gewerken und Tieren, die Pflanzen und Bäume im Garten.
Erschöpft kauert sie sich wieder in ihren Sessel und dreht das Licht der Leselampe beiseite. Der rote Kater zu ihren Füßen sieht sie jetzt wie einen Eindringling an, eine Feindin. Was weißt du schon, möchte sie ihm zurufen. Aber er würde es nicht verstehen.
Was hast du hier zu verteidigen, denkt sie.
Der Vater schläft.
Zeit der Abschiede
Rauchiger Sommer verweht.
Was ist, dass die Stimme so kratzt.
Dass ich dich wegstoße und brauch,
Es ist nur der Rauch. 11
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