Das Luxemburg-Komplott
übers angrenzende Land, weil das Rohmaterial fehle. Die Bauern in der näheren Umgebung der Stadt würden immer öfter auf Menschen schießen, die die Höfe wegen Brot, Fleisch und Eiern fast stürmten. Die Arbeiter böten zum Tausch alles an, was in den Fabriken nicht niet- und nagelfest sei, Werkzeuge, Textilfäden, Öl. Die Prostitution gehe um. Männer gäben sich aus als Kommissare und requirierten eigenmächtig in Läden und sogar Privathaushalten.
Zacharias las in Rosas Gesicht, dass sie diese Klagen kannte. Sie sah müde aus, ja sogar krank, die bleiche Gesichtshaut betonte ihre dunklen Augen um so mehr. Und dann sprach sie, langsamer, als Zacharias es kannte, langsamer, damit die Arbeiter sie verstanden und weil sie so müde war. »Haben Sie sich an die Parteien in Halle gewendet? Wie soll ich Ihnen von Berlin aus helfen?«
»Die USP hat sich fast aufgelöst, man trifft die Genossen des Vorstands beim Organisieren, wie das heißt. Ja, und die Spartakisten, das sind nur ein paar. Wenn sie nicht auf Essenssuche sind, mühen sie sich. Aber in Wahrheit sind sie hilflos. Die Miliz, ach, die Miliz …« Er machte eine verächtliche Handbewegung.
»Was stellen Sie sich vor? Soll ich Ihnen die Rote Armee schicken? Sie sind zu fünft. Sammeln Sie Gutwillige um sich. Machen Sie dem Arbeiter-und-Soldaten-Rat Druck. Übernehmen Sie die Führung, wenn die Parteien das nicht können. Die Arbeiter können nur sich selbst befreien, niemand wird es ihnen abnehmen. Aber wenn die Arbeiter versagen, da kann keine Partei an ihre Stelle treten, selbst wenn die revolutionären Parteien stärker wären als bei Ihnen in Halle.«
»Wir haben gehört, Schiffe aus Russland landen in Hamburg, bald. Mit Weizen und Fleisch.«
Rosa nickte bedächtig. »Ja, nächste Woche vielleicht. Aber es ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Russen können nicht achtzig Millionen Deutsche ernähren. Wir müssen das schon selbst hinkriegen. Stellen Sie A gitationstrupps zusammen, die aufs Land gehen und mit den Bauern reden. Die Regierung hat einen Appell an die Entente gerichtet, die Hungerblockade aufzuheben. Aber wir werden nicht einmal eine Antwort bekommen. Wir schätzen die Solidarität unserer russischen Genossen. Aber sie brauchen den Weizen und das Fleisch so dringend wie wir.«
Die Delegierten traten ab. Rosa lehnte sich zurück und stöhnte. Jogiches, der schweigend zugehört hatte, setzte sich auf einen Stuhl am Tisch, die Zigarette in der Hand.
»So geht das Tag für Tag, Genosse Zacharias. Ich kom me mir vor, als wäre ich Gott, sie glauben, ich könnte und wüsste alles. Warum nur, Leo, sind die Schwaben solche kopflosen Wesen? Die einzigen deutschen Revolutionäre kommen aus Polen.«
»Ich komme aus Litauen, auch wenn du das in dem dir eigenen großpolnischen Chauvinismus schon annektiert hast. Da bist du genauso schlimm wie Radek.« Er lachte und nebelte seinen Kopf ein mit Rauch.
Sie lächelte. »Schön, dass dir noch Scherze einfallen, bist ja sonst kein Witzbold. Besser wäre es aber, du wüsstest, was wir diesen Genossen raten können. Ist das die Alternative, Leo: Leninismus oder Untergang? Liebknecht hat das für sich beantwortet. Er ist nun unser größter Leninist. Pardon, welch Fauxpas, natürlich ist Lenin ein Liebknechtist.« Enttäuschung färbte ihre Stimme, sie war müde, zornig, enttäuscht.
»Nicht nur er, die Mehrheit.« Er wandte sich an Zacharias. »Gestern abend hat die Zentrale beschlossen, dass wir der USP einen Gewaltkurs vorschlagen. Disziplinlosigkeit soll bestraft werden, die Parteien will man verschmelzen und der Internationale unterstellen, damit dieser Schreihals Sinowjew die Befehlsgewalt übernehmen kann. Ex oriente lux.«
»Was man zugeben muss, so wie Lenin und Trotzki es machen, geht es, jedenfalls eine Weile. Nur, ist das der Sozialismus, für den ich im Gefängnis gesessen habe? Für den so viele gekämpft haben und gestorben sind? Die Diktatur von ein paar selbsternannten Führern, die jeden verfolgen, den sie als Feind ausgemacht haben? Leo, ist es das?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und was meinen Sie, Genosse Zacharias?«
»Was soll man entscheiden, wenn zwei Übel zur Wahl stehen: die Anarchie oder der Terror. Vielleicht ist der Terror die bessere Wahl, für eine Übergangszeit, bis die Macht gefestigt ist, damit dann die sozialistische Demokratie aufgebaut werden kann.«
Sie schaute ihn finster an. »Wenn man einmal die falschen Mittel einsetzt, dann kommt man nicht mehr davon
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