Das Luzifer Evangelium
Handschrift?«
»Selbstverständlich.«
»Da muss ich Sie leider enttäuschen.«
»Wo ist sie?«
»Die Handschrift ist nicht im Lager.«
»Wollen Sie mich für dumm verkaufen?«
»Bruder Raţ, die Handschrift diente nur einem Zweck: Sie musste uns zeigen, wo wir den Turm zu Babel finden. Was wollen Sie damit? Die Prophezeiung, die Sie im dritten Teil zu finden hoffen, existiert nicht. Dort steht kein Wort über Gott, Satan und costhul . Sie haben den Text falsch gedeutet. Hören Sie mich an! Ihr …«
»Wo ist die Handschrift?«
»An einem sicheren Ort. Weder Sie noch Ihre Ordensbrüder werden sie jemals bekommen.«
Bruder Raţ machte einen Schritt in den Raum hinein.
»Wir werden folgendermaßen vorgehen. Zuerst erschieße ich Beltø. Danach den Sicherheitschef. Und zum Schluss schieße ich Ihnen in beide Knie. Und dann in den Bauch. Ein Bauchschuss soll die unangenehmste und schmerzvollste Weise zu sterben sein. Früher oder später werden Sie mir sicher verraten, wo sie ist.«
Er richtete den Blick und seine Waffe auf mich.
Ich bin eine Memme. Die Angst vor dem Schmerz und die Aussicht auf einen jähen, frühzeitigen Tod machten mir weiche Knie. Ich griff nach der Stuhllehne, um nicht umzukippen.
»Nun, wird’s bald?«, sagte Bruder Raţ zu CC .
CC erwiderte etwas in der Art, dass er ihm natürlich mitteilen würde, wo sich die Handschrift befände – wenn ihm derart daran gelegen wäre. Meine Ohren rauschten so laut, dass ich nicht genau mitbekam, was er sagte. Noch ein paar Sekunden, und ich würde die Besinnung verlieren. Wenn er mich nicht vorher erschoss.
»Wo?«, rief Bruder Raţ so laut, dass seine Stimme überschnappte.
Erst jetzt bemerkte ich die zwei roten Punkte, die auf Bruder Raţs Stirn tanzten. Ich dachte, ich hätte Halluzinationen.
»Wo?«, schrie er wieder.
»Also, ich werde es Ihnen sagen …«, setzte CC an.
Die Scharfschützen hatten, wie ich später erfuhr, auf der Ladefläche eines Lastwagens in Bereitschaft gelegen, der vor dem Feldbüro geparkt war. Über ein Mikrofon, das der Sicherheitschef am Körper getragen hatte, hatten sie jedes Wort gehört.
»Tasso muss klar gewesen sein, dass er bald entlarvt werden würde, und Sie waren folgerichtig sein Ziel«, erklärte der Sicherheitschef, als das Ganze vorbei war. »Wir haben alles vorausgesehen. Den Schritt zur Seite habe ich gemacht, um den Scharfschützen freie Sicht und Schusslinie zu geben.«
Als sich die beiden Laserpunkte auf Bruder Raţs glänzender Stirn fanden, explodierte zuerst das Fenster und dann der Kopf des Mönches. Es war kein schöner Anblick. Ich werde immer noch von den Bildern heimgesucht. Ich selbst hatte mich in einem Scherbenregen zu Boden geworfen. Aber da war bereits alles vorbei gewesen. Das, was von Bruder Raţ noch übrig war, badete in dem Blut, das ihm so heilig war.
ROM, MAI 1970
Licht.
Starkes, helles Licht.
Und Luft.
Ich schluchze auf, huste, schnappe nach Luft.
Luft …
Lege meinen Unterarm über die Augen. Jammere, huste.
Sie legen den Deckel des Sargs auf den Boden. Das Licht sticht in meinen Augen. Sie heben mich aus dem Sarg. Doch etwas von mir bleibt darin zurück. Im Sarg. Sie waschen mich. Sie ziehen mich an. Der Mann mit der freundlichen Stimme gibt mir einen trockenen Keks und ein Glas Saft.
*
Silvana saß auf einem Stuhl in dem großen, leeren Refektorium des Klosters, der Ranzen lag neben ihr auf dem Boden. Ihre Bluse hing an ihrem mageren Körper, ihr Gesicht war bleich.
Giovanni brach in Tränen aus. »Silvana!«
Als sie seine Stimme hörte, blickte sie auf. Ein vorsichtiges Lächeln. Aber sie stand nicht auf. Sie warf sich nicht in seine Arme. Sie blieb, etwas schräg, auf dem Stuhl sitzen.
Was haben sie mit ihr gemacht?
»Silvana, mein kleines Mädchen!«
*
Papa …
Sehe ihn im Gegenlicht.
Papa?
Papa ist gekommen, um mich zu holen. Oder es ist jemand, der wie Papa aussieht. Jemand, der Papas Körper angezogen hat und der mich mit Papas Augen ansieht.
Lo-Lo ist weg. Er verschwindet ständig.
Silvana!, sagt Papa.
*
Er lief zu ihr und hob sie hoch. Sie legte ihre Arme schlaff um seinen Hals. »Silvana, Silvana, Silvana«, schluchzte er in ihr strähniges Haar.
*
Er hebt mich aus dem Stuhl. Seine Stimme kommt von weither: Silvana, Silvana, Silvana …
Ich versuche zu lächeln. Ist das wirklich mein Papa? Wo ist Mama? Wo ist Bella?
Er riecht wie Papa.
*
»Wie geht es dir, mein kleiner Liebling?«
Sie schluchzte.
»Papa ist gekommen, um dich
Weitere Kostenlose Bücher