Das Luzifer Evangelium
Suchende. Ich glaube, das war letztendlich auch der Grund, wieso sie angefangen hat, Theologie zu studieren. Sie war gläubig. Aber nicht im herkömmlichen, kirchlichen Sinn. Regeln und Gebote, Verbote, Dogmen – all das bedeutete ihr nichts. Marie-Élise war der Meinung, die Kirche – die Institution – sei der erbärmliche Versuch der Menschen, den Glauben in ein System zu zwängen. Sie war überzeugt davon, dass es eine größere Wahrheit gab. Eine Wahrheit, die einzufangen weder der Kirche noch der Bibel noch einer anderen Religion oder Glaubensrichtung gelungen war. Ich selber bin ein guter Katholik. Traditionell. Das leugne ich nicht. Marie-Élise und ich hatten viele lebhafte Diskussionen. Aber ich habe ihre Meinung immer respektiert. So wie sie mich respektiert hat.«
»An was hat sie geglaubt?«
Er musste nachdenken, ehe er antwortete. »Sie war Christin in einem gänzlich anderen Sinn, als wir es gewohnt sind. Sie war fasziniert von den Gnostikern, den Katharern, den Manichäisten. Von der Grenze zwischen Gut und Böse, Licht und Dunkel. Sie glaubte, dass der Raum um uns herum voll von guten Geistern war – Lichtwesen nannte sie sie –, die nicht gebunden waren an irdische Körper. Außerdem glaubte sie an Gegenkräfte. Finstere, böse Geister. Nennen Sie sie meinetwegen Dämonen. Teufel. Satans Handlanger.«
Er wurde still. Ich hörte nur seinen Atem.
»Marie-Élise ist jetzt ein Lichtwesen. Auf den Bildern des Polizeifotografen scheint sie von innen heraus zu leuchten. Selbst im Tod. Sie leuchtet.«
»Wie hat sie ihren Glauben gefunden?«
»Sie hatte zwei Mentoren. Lehrmeister. Eigentlich sollten Sie mit denen sprechen.«
»Wer …?«
»Ich weiß nicht einmal, wie sie heißen. Sie haben übers Internet kommuniziert. Er ist ein alter Mann, soweit ich weiß. Die Frau ist jünger. Marie-Élise war sehr angetan von den beiden.«
»Wohnen sie in Paris?«
»Nein, in Amsterdam.«
Ich dachte an Monique mit ihrer niederländischen E-Mail-Adresse. Und an das Paar in Amsterdam, das Christian Keiser aufzuspüren versucht hatte.
»Glauben Sie, dass sie etwas mit dem … was passiert ist, zu tun haben könnten?«
»Sicher nicht. Marie-Élises Urteilskraft war exemplarisch. Sie ist mehrmals in Amsterdam gewesen, um sie zu besuchen. Nach diesen Treffen war sie immer Feuer und Flamme.«
»Was wissen Sie über diese Menschen?«
»Nicht viel. Sie leben sehr zurückgezogen, mythenumsponnen. Marie-Élise hat ihnen geholfen.«
»Wobei?«
»Gute Frage. Es hatte was mit ihrer Forschung zu tun, mehr weiß ich auch nicht. Sie waren mit einem sehr ausgefallenen Fachgebiet befasst.«
»Inwiefern ausgefallen?«
»Ich nehme das Wort nur ungern in den Mund, aber soweit ich es verstanden habe, waren sie Experten für Satanismus. Denken Sie jetzt bitte nichts Falsches über Marie-Élise oder diese Forscher. Ihr Interesse war ausschließlich akademisch.«
»Welche Rolle hat Marie-Élise bei ihrer Forschung gespielt?«
»Sie war ihr Kontakt zur Außenwelt. Meistens übers Internet. Sie war ein Ass darin.«
»Könnten Sie mir behilflich sein, Kontakt zu diesen Leuten aufzunehmen?«
»Leider nein. Marie-Élise hat die Adressliste in ihrem Handy gelöscht. Und ihr Laptop mit allen E-Mail-Adressen wurde von der Polizei beschlagnahmt.«
Wir redeten noch einige Minuten. Bevor wir auflegten, bat ich ihn, mich anzurufen, falls er etwas Neues erfuhr.
2
Bereits am nächsten Vormittag meldete er sich wieder. Seine Stimme klang dünn, als ob sie jeden Augenblick versagen könnte.
»Es ist etwas passiert. Noch etwas.«
»Was ist passiert, Monsieur Monnier?«
»Es betrifft Marie-Élise.«
»Ja?«
»Und Sie.«
»Mich?«
»Ich habe einen Brief bekommen.«
»Von … den Mördern?«
»Von Marie-Élise. Eine Freundin hat ihn weitergeschickt.«
»Sie müssen den Brief der Polizei übergeben!«
»Das werde ich.«
»Was schreibt sie?«
»Sie sollten ihn lesen.«
»Warum?«
»Sie werden darin erwähnt.«
»Ja? Was steht dort?«
»Nicht am Telefon, auf keinen Fall.«
»Wie soll ich ihn lesen?«
»Können Sie nach Paris kommen?«
Durch das Fenster sah ich einen großen Vogel – einen Adler? Habicht? –, der große Kreise zog, eine Silhouette am Himmel. Plötzlich stieß er auf den Fluss herunter und verschwand aus meinem Blickfeld.
Können Sie nach Paris kommen?
»Beltø?«
Amsterdam … Paris … Carcassonne … Rom …
Ich hielt nach dem Raubvogel Ausschau und dachte: Ich kann mich nicht bis in alle
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