Das Luzifer Evangelium
hinausging. Als der Kellner kam und sich erkundigte, ob wir uns entschieden hätten, bestellte Monique Cannelloni. Ich nahm Spaghetti alla chitarra mit gebackenem Gemüse. Ich bin Vegetarier. Als Kind habe ich einmal einen Jäger ein rohes Herz verspeisen sehen. Seitdem ziehe ich Gemüse vor. Der Kellner empfahl uns den Rotwein des Hauses. Er kam mit einer Flasche zurück und schenkte ein. Monique und ich stießen an. Ihr Haar schimmerte im Schein der Deckenlampe.
»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«, fragte ich.
Sie neigte den Kopf zur Seite und nickte.
»Wie wird man stumm?«
» Een spin! «, schrieb sie und sah auf die Wörter, die sie auf Niederländisch geschrieben hatte. »Entschuldigung. Eine Spinne. Giftig. Die europäische schwarze Witwe. Eigentlich relativ harmlos. Aber ich war erst vier Jahre alt. Ein Biss. Allergische Reaktion. Koma. Bin stumm erwacht. Ohne Stimme.«
»O je!«
Ich rede ungern darüber, aber ich hatte schon immer Angst vor Spinnen. Ich weiß, wie lächerlich das ist. Für meine Höhenangst und meine klaustrophobischen Anfälle gibt es wenigstens eine logische Erklärung. Aber für meine Angst vor Spinnen? Mal ehrlich. Wenn ich etwas aus dem Keller holen muss und eine fette Spinne blinzelt mich träge aus der weichen Umarmung ihres Netzes an oder so ein haariges Biest flitzt über den Wohnzimmerboden und verschwindet unter dem Sofa, ist meine hart erkämpfte Selbstbeherrschung augenblicklich zum Teufel.
Sie schrieb: »An was denken Sie?«
»Spinnen.«
»Sie sind dran. Wie wird man Albino?«
»Ganz einfach. Man wird so geboren.«
Sie lachte lautlos. Dann schrieb sie: » Waarom? Woran liegt das?«
»Ein genetischer Defekt. Der Körper produziert kein Pigment. Jedenfalls nicht genug.«
Sie legte ihre bronzefarbene neben meine blasse Hand. Ich weiß nicht, wieso. Dann ging es mir auf. Zum Vergleich. Ihre Finger waren lang und schmal. Die Finger einer Musikerin, Pianistin oder Cellistin. An mehreren Fingern steckten exklusive Ringe. Die spitzen Nägel waren rot lackiert. Ich überlegte, wie es sich wohl anfühlte, von ihnen den Rücken zerkratzt zu bekommen.
»Habe ich von meiner Mutter geerbt«, schrieb sie auf ihren Block. Ich dachte, sie meinte die Nägel. Als sie meinen fragenden Blick sah, fügte sie hinzu: »Die Ringe!«
»Die sind wunderschön.«
»Und wieso starren Sie meine Nägel an?«
Diese kribbelige Andeutung eines Lächelns …
»Die Nägel sind auch wunderschön.« Bjørn, der Charmeur. Sie schien meine Gedanken zu lesen und für einen kurzen Augenblick das gleiche Bild wie ich vor Augen zu haben: spitze Nägel, die rote Streifen in meine kreideweiße Rückenhaut kratzen. Sie lächelte, und ich schaute errötend nach draußen auf den vorbeifahrenden Verkehr. Im Fenster sah ich, dass Monique mich betrachtete. Als ich den Blick ihres Spiegelbildes einfing, wandte sie sich ab.
Ich fühle mich häufig von Frauen angezogen, die so alt sind wie ich oder sogar älter. Fragen Sie mich nicht, wieso. Keine Frauen, die sich mit ihrem Alter und dem Verfall abgefunden haben, sondern solche, die sich noch an das Gefühl erinnern, ein junges Mädchen zu sein. Monique war so eine Frau, wenngleich ich fand, dass sie weitaus jünger aussah als ich. Dennoch: eine sinnliche Mischung aus etwas Reifem und Jungem, aus erfahrener Frau und unverdorbenem Mädchen. Das sieht man am Blick. An dem rebellischen und verspielten Aufblitzen der Augen.
»Sie sehen aus wie dreißig«, sagte ich.
Sie drückte meine Hand.
»Das ist mein Ernst!«
»Flirten Sie etwa mit mir?«, schrieb sie. Und dann malte sie, kokett, ein kleines Herz.
Verlegen hob ich das Glas. Wir stießen an. Mich streifte der Gedanke, dass sie mit einem kranken Mann verheiratet war, aber ich schob ihn schnell wieder beiseite.
Ich erzählte ihr das Wenige, was ich über den Mann wusste, mit dem wir am nächsten Tag verabredet waren – Marie-Élise Monniers Vater –, und wie es mir gelungen war, ihn aufzuspüren. Der Mord an Marie-Élise ging Monique sehr nah, also lenkte ich das Gespräch auf die Theorien, die sich um Luzifers Evangelium rankten. Wie sich zeigte, wusste Monique eine ganze Menge darüber – nicht nur über den akkadischen Ursprung der Schrift und die Parallelen zu anderen mesopotamischen Werken, sondern auch über die wahrscheinliche Datierung und die verschlungene Reise der Handschrift durch die Geschichte.
»Beeindruckend«, platzte ich heraus.
»Dirk sei Dank«, schrieb sie. »Er ist der
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