Das Luzifer Evangelium
Gutsherren im Plüschsessel vorgestellt, der seinen Foxhound hinter den Ohren kraulte und seine Tochter vermisste. In Wirklichkeit war sein französischer Akzent das einzig Stilvolle an ihm. Seine Haut war fahl, sein Blick wässrig und leblos. Er schielte. Seine Lippen waren trocken und aufgeplatzt. Die Gesichtszüge wirkten verschoben und nicht ganz symmetrisch, möglicherweise die Nachwehen eines Schlaganfalls. Das schüttere, graue Haar stand wirr vom Kopf ab. Er trug eine karierte Hose mit kaputtem Reißverschluss und ein paar spröde, ausgeleierte Hosenträger über einem Netzhemd mit etlichen Löchern.
»Monsieur Monnier?«
»Oui.«
»Ich bin Bjørn Beltø.«
»Yes, yes, yes …«
»Das hier ist Monique aus Amsterdam.«
»Yes. Oui. Yes, I understand. I see.«
Er schien ihren Namen wiederzuerkennen und den Zusammenhang zu erfassen. Jedenfalls nickte er vor sich hin und öffnete die Tür, um uns in sein Elend zu bitten. Vom Flur mussten wir durch eine enge, schmale Küche, wo sich der Abwasch mehrerer Wochen im Spülbecken stapelte, um in ein ebenso enges, schmales Wohnzimmer zu gelangen. Dafür war an der Aussicht nichts auszusetzen. Louis-Ferdinand Monnier lief auf und ab, als wüsste er nicht, wohin er mit sich sollte.
»Marie-Élise mochte Sie sehr«, sagte er zu Monique.
»Danke. Wir haben sie auch sehr gemocht«, schrieb Monique und hielt ihm ihren Block hin.
Louis-Ferdinand Monnier blickte fragend von Monique zu dem Block.
»Sie ist stumm«, erklärte ich.
»Wenn das so ist«, murmelte er und holte seine Lesebrille. »Stumm?« Er verzog das Gesicht. Es sah ganz so aus, als bräuchte er eine neue Brille, als er Moniques Antwort las. »Ach ja, ach ja.« Er sah Monique und mich an. »Wer sind sie? Sagen Sie es mir! Was sind das für … Unmenschen?«
»Wir wissen es nicht«, räumte ich ein.
»Und warum diese Geheimniskrämerei?«, redete er weiter, jetzt an Monique gewandt. »So viel Angst? Wovor? Ich beginne allmählich zu begreifen, wieso Marie-Élise sich all die Jahre, in denen sie mit Ihnen in Kontakt stand, verfolgt gefühlt hat. Was für ein Hexenwerk betreiben Sie eigentlich?«
»Es tut uns wirklich unendlich leid«, schrieb Monique. »Wir haben zu keiner Zeit damit gerechnet, dass Marie-Élise in Gefahr sein könnte. Das bedauern wir zutiefst.«
Sie hielt den Block hoch, damit Louis-Ferdinand Monnier das Geschriebene lesen konnte.
»Als Sie mich angerufen und gebeten haben zu kommen«, sagte ich, »haben Sie erzählt, Sie hätten einen Brief bekommen?«
»Ich habe Sie nicht gebeten zu kommen. Ich habe Ihnen gesagt, Sie müssten kommen, wenn Sie den Brief lesen wollen, ehe ich ihn der Polizei übergebe.« Sein Kommentar wirkte aufgesetzt, als wollte er mit dem hart erkämpften Selbstbewusstsein die Trauer und seine Gefühle überspielen. »Entschuldigen Sie mich«, sagte er und hastete in die Küche. Kurz darauf kam er mit einem Glas Pulverkaffee und einem Aluminiumkessel mit lauwarmem Wasser zurück. »Marie-Élise war speziell.« Seine Stimme war jetzt sanfter, weicher. »Schon als kleines Mädchen war sie von allem Überirdischen fasziniert. Elfen. Feen. Engel. Götter. Ihr ganzes Leben drehte sich um die Dinge, die sie nicht sehen, aber fühlen konnte. Mit sieben Jahren hat sie ihre Mutter verloren. Vielleicht lag es daran. Es hat mich nicht im Geringsten überrascht, als sie später beschloss, Theologie zu studieren.«
»Was steht in dem Brief, den sie Ihnen geschickt hat?«
Er ging zu der Kommode und zog eine Schublade heraus. Der Brief lag in einem Fotoalbum mit Kinderbildern von Marie-Élise. Ein fröhliches Kind, das im Sand spielt.
XIV: Der Brief (I)
23. Mai 2009
Lieber Papa,
ich sitze im Zug auf dem Weg nach Süden, während ich das hier schreibe. Es regnet. Die glänzende Landschaft vor der beschlagenen Scheibe sieht irgendwie unwirklich aus. Die Passagiere um mich herum schlafen. Papa, ich hoffe inniglich, dass Du diese Zeilen niemals lesen wirst und dass ich diesen Brief in ein paar Monaten hervorholen und verbrennen kann und die letzten Tage nur noch eine Erinnerung sind. Wenn ich meinen Brief zu Ende geschrieben habe und der Zug sein Ziel erreicht hat, werde ich ihn in einen verschlossenen Umschlag – mit Adresse und Briefmarke versehen – an Amélie schicken. Du erinnerst Dich sicher noch an sie aus der Zeit, als wir in Vélizy-Villacoublay gewohnt haben. Falls mir etwas zustößt, soll sie den Brief an Dich schicken. Wenn nicht, werde ich den Brief
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