Das Luzifer Evangelium
seltsamerweise, eine Kirchenglocke, die nur einen Schlag tat. Ich spürte das Flirren Roms, den ungeduldigen Verkehr, die begeisterten Touristen, das werbende Gurren der Tauben, die Gebete der Priester, Mönche und Nonnen und die Liebesseufzer hinter heruntergelassenen Jalousien.
»Könnten Sie«, sagte er geduldig, »mir die Gunst erweisen, wenigstens in Erwägung zu ziehen, dass ich möglicherweise recht habe? Und falls Sie zu dem Schluss kommen sollten, dass ich kein religiöser Fanatiker bin und Satans Sohn tatsächlich 2012 in die Welt zurückkehrt, um all das Gute zu vernichten, das Jesus auf unserer Erde gesät hat, wäre es da nicht in aller Interesse, ja selbst im Interesse der Atheisten, ihn aufzuhalten und dieses Teufelswerk zu verhindern?«
Er versuchte, mich in sein rhetorisches Spinnennetz einzuwickeln, weshalb ich ihm nicht antwortete. Aber ich begegnete seinem Blick und hielt ihm stand.
»Erinnern Sie sich, als wir von dem verloren gegangenen Bartholomäus-Evangelium gesprochen haben?«, fragte er. »Bartholomäus war einer der zwölf Jünger Jesu und benennt zehn Dämonen: Chalkatura, Charut, Duth, Graphathas, Hoethra, Melioth, Mermeoth, Nephonos und Onomatath. Aber der zehnte – Salpsan – ist der spannendste. Er ist der Einzige, der in der neutestamentarischen apokryphen Schrift – Bartholomäus’ Fragen – namentlich als Satans Sohn erwähnt wird.« Er schob ein Papier über den Tisch.
Und ich [Satan] weckte meinen Sohn Salpsan und fragte ihn um Rat, wie ich den Mann betrügen konnte, der geschehen ließ, dass ich aus dem Himmel verstoßen wurde.*
* Aus Bartholomäus’ Fragen . Auszüge aus den verloren gegangenen Texten liegen in Griechisch und Latein vor und geben Gespräche zwischen Jesus und den Aposteln wieder.
»Bjørn«, sagte Aldo Lombardi. »Es liegt in Ihrer Macht, zu verhindern, dass Satans Sohn zurückkommt.«
Wie alle Verrückten mit einer Vision von ungeahnten Dimensionen war Aldo Lombardi so von der Prophezeiung in der Handschrift besessen, dass er in keiner Weise den Wahnsinn in seiner verzerrten Sicht einsah.
»Ich bin nur ein unbedeutendes Instrument im Kampf für Jesus Christus«, sagte er. »Aber ich stehe für etwas Größeres, an der Seite all jener, die mit allen Mitteln den Antichrist aufhalten wollen. Wir sind eine Gruppe von Geistlichen, Gläubigen, Mönchen, Theologen. Gute Menschen, Bjørn, gute Menschen! , die sich zum Ziel gesetzt haben, Satans Absichten zu vereiteln. Um Satan aufzuhalten – um seine Helfer aus Fleisch und Blut daran zu hindern, die Hure zu finden, von der er abhängig ist, um sein Projekt zu vollenden und seinen Sohn zu zeugen –, müssen wir seine Pläne kennen. Und dafür müssen wir die Prophezeiungen kennen. In ihrer Gesamtheit.«
Zwischen den Zeilen schwangen unausgesprochene Hallelujas mit.
»Wir müssen diese Handschrift haben, Bjørn. So wie das Alte Testament die Ankunft Christi vorhergesagt hat, zeigt uns Luzifers Evangelium den Weg zu Satans Sohn. Nur wenn wir jedes Detail der Prophezeiung kennen, können wir ihre Erfüllung verhindern. Satans Jünger brauchen die Handschrift, um den Willen des Fürsten der Finsternis auszuführen. So wie unser Herr die Jungfrau Maria brauchte, ist Satan abhängig von wohlgesinnten Helfern auf der Erde. Wir kämpfen für etwas, an das wir glauben. Ich bin sicher, dass Sie, mehr als jeder andere, Verständnis dafür haben. Wir warten seit vielen Jahren, dass Luzifers Evangelium endlich wiederauftaucht. Wir haben ein systematisches Kontaktnetz zu Dekanen und Professoren in den Fakultäten führender Universitäten geknüpft, zu Forschungsinstituten und Museen auf der ganzen Welt. Und so erfuhren wir, nach und nach, von dem Fund des Konservators Taras Koroljov. Paradoxerweise nicht vom Pechersk-Lavra-Museum, sondern über einen Kontakt an der Universität in Oslo.«
Er sah mich an.
»Da habe ich angefangen, Sie anzurufen.«
2
Ich saß da wie gelähmt und starrte den Professor an.
Während ich noch versuchte, die Behauptungen über Satans Sohn zu verdauen, ging mir allmählich auf, dass der geheimnisvolle Anrufer, der mich seit meiner Heimkehr aus Kiew terrorisiert hatte und damit selbst noch fortfuhr, nachdem die Polizei mein Handy beschlagnahmt hatte, Aldo Lombardi war.
Deshalb war mir die Stimme so bekannt vorgekommen! Ich hatte sie nur nicht richtig zuordnen können.
»Sie sehen überrascht aus? Jetzt stellen Sie sich mal meine Überraschung vor, als Sie eines Tages bei mir
Weitere Kostenlose Bücher