Das Luzifer Evangelium
eine menschenleere Vorstadt. Dann ging es an ein paar Feldern vorbei. Nicht weinen, sagte der Mann rechts neben mir. Er hörte sich nett an. Wohin fahren wir?, fragte ich. Wir sind bald da, antwortete der Mann mit der freundlichen Stimme. Die anderen Männer sagten nichts. Sie saßen einfach nur da und starrten nach vorn. Nach einer langen Fahrt hielten wir vor einem Schloss. Oder etwas, das wie ein Schloss aussah. Als sie mich aussteigen ließen und ich mich umschauen konnte, erkannte ich, dass es ein Kloster war, mit einer Kapelle und einem Friedhof, um den sich eine hohe Mauer zog. Eine Treppe führte zum Eingang. Über der Tür konnte ich die Worte Monastero und Signore und Santo und die Jahreszahl 1871 lesen. Da standen noch viel mehr Worte, aber mehr konnte ich nicht erkennen. Es musste lange her sein, seit hier Mönche gelebt hatten. Die Fenster waren zerbrochen, und im Vorgarten wuchsen Unkraut und kleine Bäume zwischen den Pflastersteinen. Mir war, als hörte ich Mönche singen. Vielleicht habe ich sie aber auch nur in meinem Kopf gehört. Die Männer führten mich über eine breite Treppe ins Kloster hinein. Auf dem Boden war überall Staub und Sand. Ein Deckenbalken war gebrochen, so dass man den Himmel sehen konnte. Jemand hatte die Ziegel zur Seite geschoben, die heruntergefallen und auf dem Boden zersplittert waren. Ein riesiges Kreuz lehnte verkehrt herum an der Wand. Im Schatten der Wände standen Statuen, wahrscheinlich von Menschen aus der Bibel. Auf jeden Fall habe ich Moses und Jesus und die Jungfrau Maria wiedererkannt. Ich ging mit den vier Männern aus dem Auto durch das Kloster. Der Mann mit der freundlichen Stimme führte mich. Wir gelangten in die Kapelle. In der Mitte des Raumes stand auf einem hohen Sockel eine Art steinerner Sarg. Die Seitenwände und der Deckel waren mit Blumenranken und Figuren aus der Hölle verziert. Dämonen und Teufel. Solche, wie Papa sie studiert. Spitze Gesichter mit langen Zungen und leeren Augen. Die Männer stellten sich im Kreis um den Sarg und begannen zu singen. Wie Mönche. Vielleicht waren sie ja welche. Der Mann mit der freundlichen Stimme drückte meine Hand. Als sie mit dem Singen fertig waren, kniete einer der Männer vor dem Sarg nieder. Ich glaube, er hat gebetet, aber ich konnte nicht hören, was er sagte. Als er fertig war, senkten alle Männer die Köpfe und murmelten etwas im Chor, aber auch das habe ich nicht verstanden. Dann wandten sich alle mir zu. Vier Männer kamen auf mich zu. Der Mann mit der freundlichen Stimme drückte wieder meine Hand. Ich begann zu weinen. Während zwei mich festhielten, rissen die anderen mir die Kleider vom Leib. Ich hatte Angst, und mir war so unwohl. Ich schrie, versuchte, um mich zu schlagen, aber sie waren viel stärker als ich. Als ich nackt war, trugen sie mich durch die Kapelle. Ich konnte mich nicht losreißen, schrie nach Mama und Papa. Aber niemand hörte mich. Nur die fremden Männer. Dann zwangen sie mich, in den kalten Steinsarg zu klettern. Als sie den Deckel daraufschoben, rieselte Staub in den Sarg. Ich hustete und versuchte, zu schreien, aber Staub und Angst schnürten mir die Kehle zu. Alles war dunkel.
Mit geballten Fäusten schlage ich gegen die Innenseiten des Sargs. Ich trete gegen den Deckel. Ich habe so wenig Platz, es ist so eng. Wenn ich versuche, mich aufzurichten, stoße ich mir den Kopf an dem steinernen Deckel. Alles ist hart und schwer. Mein Herz schlägt zu schnell. Ich huste. Schlage um mich und schürfe mir die Haut ab. Ich schnappe nach Luft. Hier drin ist nicht genug Luft, sagt Lo-Lo. Ich habe von Kindern gelesen, die gestorben sind, weil sie sich in alten Kühlschränken versteckt haben und die Tür von innen nicht mehr öffnen konnten. Ich versuche, langsam und tief zu atmen. Da spart man doch Luft, oder? Es ist nicht so leicht. Ich fühle mich kurzatmig. Wir brauchen Sauerstoff zum Atmen, das weiß ich aus einem Biologiebuch in der Schule. Die Luft im Sarg ist warm und feucht. Mein Herz schlägt und schlägt, klopf, klopf, klopf. Die Innenseiten des Sarges riechen genauso wie die Baustelle, auf die Mama und Papa mich vor ein paar Monaten mitgenommen haben. Ich weiß nicht, ob das der Zement oder Kalk oder etwas anderes ist. Mama verkauft Häuser und Wohnungen. Meistens haben da vorher schon Leute gewohnt. Aber manchmal baut die Firma, in der Mama arbeitet, auch ganz neue Häuser, die sie dann verkaufen, glaube ich. Auf jeden Fall riecht es hier genauso. Wie auf einer
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