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Das Luzifer Evangelium

Das Luzifer Evangelium

Titel: Das Luzifer Evangelium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Egeland
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nenne ihn bloß Lo-Lo. Man kann ja auch nicht einfach Lowïndûlar-cahn-Loshwëêmin heißen. Das geht doch nicht. Also wirklich nicht.
    Mama und Papa sagen, ich hätte Lo-Lo erfunden.
    Sie behaupten, dass es ihn nur in meinem Kopf gibt.
    Lass sie das ruhig glauben, sagt Lo-Lo.
    Sie können ihn nicht sehen oder hören. Auch nicht, wenn er direkt neben mir steht und lauthals eines dieser Volkslieder singt, die in seinem Elfenland so beliebt waren. Sie sehen direkt durch ihn hindurch. Seine Stimme erreicht ihre Ohren nicht. Wenn er neben mir im Bett liegt und Mama und Papa kommen, um mir gute Nacht zu sagen, setzen sie sich manchmal sogar auf ihn drauf. Er liegt dann mucksmäuschenstill da und verdreht die Augen.
    Bist du ein Engel, Lo-Lo?, habe ich ihn einmal gefragt.
    Das wäre schön.
    Also, was bist du?
    Ich bin wohl nur ein Geist.
    Aber du hast doch gesagt, du wärest mein Schutzengel?
    Ein Schutzengel ist kein richtiger Engel, Silvana.
    Was ist der Unterschied zwischen einem Geist und einem Engel?
    Gottes Nähe.
    Wie meinst du das?
    Er schwieg ziemlich lange. Für Lo-Lo war das eher untypisch. Schließlich sagte er: Denk nicht daran, Silvana, mach dir darüber keine Gedanken, hörst du?
    Warum nicht?
    Wenn du erwachsen bist, wirst du es verstehen.
    Was verstehen?
    Ich würde es dir ja gerne sagen, aber ich sollte das nicht tun.
    *
    LIEBER GOTT, HILF MIR HIER RAUS! LIEBER GOTT, LASS DAS ALLES NUR EINEN ALBTRAUM SEIN, LASS MICH AUFWACHEN UND FESTSTELLEN, DASS ICH NUR GETRÄUMT HABE, BITTE, GOTT. IN JESU NAMEN, AMEN.

Silvana, flüstert Lo-Lo, du musst aufwachen!
    Starre ins Dunkel. Ringe nach Atem. Durst. So ein schrecklicher Durst.
    Du darfst nicht zu tief schlafen, meine kleine Freundin.
    Warum nicht?
    Du hast Fieber und Krämpfe. Schlaf nicht ein.
    Bin so müde.
    Versuch, dich wach zu halten.
    Meine Lungen sind voller Staub.
    Es ist nicht genug Luft im Sarg, sagt Lo-Lo. Er schmiegt sich an mich und flüstert mir meinen Namen tröstend ins Ohr.
    Ich wimmere, mir bricht der Schweiß aus. Nicht genug Luft. Ich sterbe. Ich sterbe, Mama und Papa, warum holt ihr mich nicht? Wollt ihr, dass ich sterbe?
    Mein Körper zittert und bebt.
    Ich kann mich nicht mehr wach halten.
    Lo-Lo: Wach auf, kleine Freundin.
    Ich kann nicht mehr.

Ich schlafe.
    Ich träume.
    Ich wache auf.
    Ich schlage die Augen auf.
    Der Dämon sitzt – gebeugt und verkrüppelt – am Fußende des Sarges. Er starrt mich an. Ein schimmerndes grelles Licht geht von ihm aus. Deshalb kann ich ihn im Dunkeln sehen. Seine Arme sind Knochen. Der haarlose Kopf ist spitz und die Haut so dünn, dass ich den Schädel durchschimmern sehe. Ich schreie.
    Seine Augen verlöschen. Nur sein Geruch ist immer noch da.
    Lo-Lo!, schreie ich. Lo-Lo antwortet nicht.
    Ich schreie und schreie.

I : CC
    ROM
11. – 12. JUNI 2009
    1
    Wer lange genug gen Osten reist, immer dem Sonnenaufgang entgegen, wird das schicksalsschwere Gefühl kennen, einen Tag seines Lebens verloren zu haben. Nichts – keine Logik, kein Argument, kein gründliches Studium von Kalendern oder Almanachen – kann einem das beklemmende Gefühl nehmen, dass einem Zeit gestohlen wurde und man ein Stück zwischen Vergangenheit und Zukunft verpasst hat.
    Millimeterweise öffnete ich die Augen. Meine Augenlider waren tonnenschwer.
    Ein paar Minuten lag ich reglos und still da, wie nach einer ausgiebigen und feuchtfröhlichen Sauftour, die im schwarzen Schlund des Vergessens endete. So stellte ich es mir vor, auf einer Bahre hinter einer viereckigen Tür im Kühlraum einer Leichenhalle zu erwachen.
    Fakt: Ich lebte. Das war ja schon mal was. Ich befand mich nicht im Krankenhaus. Oder in der Pathologie. Ich lag in einem Bett. War nicht festgebunden. Also war ich kein Gefangener mehr. Auf meinem Unterarm klebte ein Pflaster.
    Frage: Was war geschehen? Wo war ich? Wo waren der Primus Pilus und die anderen Irren?
    War die Entführung möglicherweise nur inszeniert worden, um mich in Todesangst zu versetzen? In dem Fall war die Vorstellung ein voller Erfolg gewesen. Applaus und trampelnder Beifall. Aber ich hatte nicht verraten, wo sich die Handschrift befand. Oder doch? Ich versuchte, mich zu erinnern, kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich. Ich erinnerte mich an den grauhaarigen Mann, der sich Primus Pilus nannte, an die Mönche in ihren grauen Kutten. Ich erinnerte mich, wie sie einen großen, länglichen Krug über meinen Arm gezogen hatten. Und dann waren da noch die chirurgischen Instrumente in dem

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