Das Luzifer Evangelium
wieder bekam seine Stimme diesen gequetschten Unterton, als stiegen Luftblasen in seiner Kehle auf, »aber ich würde das Manuskript gerne noch einmal ausleihen, und sei es nur für ein paar Minuten.«
»Tut mir leid.«
»Ich würde gerne etwas nachschauen, etwas, das für mich von entscheidender Bedeutung ist.«
Der Dekan schüttelte entschieden den Kopf. »Bedaure, Professor. Mir ist klar, dass die Handschrift interessant ist …«
» Dottore !«
»… und dass sie viel für Sie bedeutet. Ich würde Sie mehr als gerne an dem Text forschen lassen, aber …«
»Es geht nur um ein Detail, es würde nicht mehr als eine halbe Minute dauern …«
»Wissen Sie, Nobile, ich erkenne mich in Ihnen wieder. Dieser Feuereifer, den Dingen auf den Grund zu gehen! Aber in diesem Fall müssen wir so tun, als hätten wir dieses Manuskript nie zu Gesicht bekommen. Es hat sich nie in unserem Besitz befunden. Wir können nicht in etwas blättern, das nicht existiert.«
»Aber …«
»Hören Sie! Wenn wir den Ägyptern die Handschrift ausgehändigt haben, können Sie sich um ein Reisestipendium bewerben und den Text in Kairo studieren.«
»Herr Dekan …«
»Tut mir leid, Professor Nobile. In diesem Fall bin ich nicht nur prinzipienfest, sondern unerbittlich.«
»Ich flehe Sie an.«
»Nein! Luzifers Evangelium bleibt in meinem Tresor, bis die Ägypter es holen.«
*
Giovanni ging zurück in sein eigenes Büro. Was hatte er dort verloren? Er starrte den Papierstapel für die Harvard Theological Review an, er starrte das Fenster an, das das bleiche Morgenlicht einrahmte, und heftete seinen Blick dann auf die Wand, lange. Er erwog, Luigi anzurufen, verwarf den Gedanken aber wieder. Stattdessen rief er zu Hause an, um zu hören, ob sich die Entführer gemeldet hatten. Luciana nahm nicht ab. Um die Zeit totzuschlagen und seine Gedanken zu sortieren, nahm er sich ein paar Nachschlagewerke und Aufsätze vor, die sich neben seiner Schreibmaschine stapelten. Er verschaffte sich einen kurzen Überblick über belegte historische und theologische Fakten über die Drăculsângeer, in der Hoffnung, einen Schwachpunkt zu entdecken, den er ausnutzen konnte. Aber er fand nichts. Und dabei sah er die ganze Zeit Silvana vor sich.
Mein Gott. Was stellen sie mit ihr an?
Wieder rief er zu Hause an. Niemand antwortete.
Er schloss das Büro ab, ging die Treppe hinunter und fuhr mit dem Rad heimwärts. Der Verkehr war wahnsinnig. Luciana war nicht zu Hause. Er ging von Raum zu Raum und suchte nach ihr, als hätte sie sich versteckt und wartete nur darauf, von ihm entdeckt zu werden.
Haben sie Luciana nun auch noch entführt? Wie konnte ich nur so unvorsichtig, so unbedacht sein? Blödsinn, sie haben sie nicht entführt. Sie haben Silvana. Sie brauchen Luciana nicht.
Enrico!, dachte er.
Sie ist bei Enrico. Eine plötzliche Gewissheit. Enrico … Er wollte nicht anrufen. Enricos Telefonnummer stand in dem Telefonregister in der Schublade unter dem Telefon. Aber die Nummer zu wählen und nach seiner Frau zu fragen – und sie womöglich an den Hörer zu bekommen –, das wäre zu viel für ihn.
Er ließ sich in den Plüschsessel fallen. Die Handschrift … Herrgott. Oh, mein Gott . Was sollte er ihnen sagen, wenn sie anriefen? Wie würden sie reagieren? Wir werden sie dort lassen, wo sie sich befindet. In dem Sarg. Er erhob sich, griff nach dem Aschenbecher auf dem Tisch und schleuderte ihn gegen die Wand. Ein feiner Aschestaubschleier glitzerte in den Sonnenstrahlen.
Der Sarg …
Ein Schluchzen. Verletzt und verzweifelt. Woher kam das Geräusch? Von ihm selbst? Ich handele wie ein verwundetes Tier. Ich denke nicht rational. Wie ein angeschossenes Tier, das seinen Jägern zu entkommen versucht. Denk nach, Giovanni! Denk nach!
Das Telefon klingelte.
Im ersten Augenblick war er wie gelähmt. Dann rannte er zum Telefon und riss den Hörer von der Gabel. »Ja?«
»Professor Nobile.« Die Stimme des Großmeisters. »Haben Sie beschafft, was wir vereinbart haben?«
Sein rasselnder Atem und sein rasender Herzschlag machten es ihm unmöglich zu antworten.
»Professor Nobile?«
»Wir – haben – ein – Problem.«
Die Worte kamen kurzatmig und abgehackt, verwaschen, seine Stimme klang weinerlich und panisch.
»Ein Problem welcher Art?«
»Mein Übergeordneter an der Fakultät, Dekan Dr. theol. Salvatore Rossi, hat die Handschrift beschlagnahmt.«
»Wieso?«
»Augenscheinlich hat Luigi Fiacchini, der das Antiquariat unten in der
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