Das Mädchen am Rio Paraíso
die natürlichste Sache der Welt, nicht nur mit diesen »wichtigen« Begriffen zu hantieren, sondern die solcherart bezeichneten Früchte auch genüsslich zu verzehren. Die Obstsorten, die es in Brasilien gab, waren unvergleichlich köstlich und von einer Süße, wie man sie daheim nur selten fand – die Äpfel, Kirschen und Pflaumen aus unserer »Bitz«, dem Obstgarten, waren jedenfalls meist sauer gewesen. Manchmal träumten wir schon noch von Früchten, die wir hier nicht hatten, Erdbeeren etwa, aber wir wurden ja mehr als reich entschädigt. Vor unserem Haus wuchsen mehrere
banana
-Stauden, und nachdem wir einmal unsere Scheu überwunden und die komische Frucht gekostet hatten, wurden
bananas
zum festen Bestandteil unseres Speisezettels. Sogar mit dem Gebrauch eines solchen Namens, der sich in unserem Wortschatz verankert hatte, würden wir die Neuankömmlinge tief beeindrucken. Nicht, dass es uns ein Anliegen gewesen wäre, so wie damals dem Georg Hellrich.
Unsere süße Hilde dagegen würde diese ganzen exotischen Wörter sozusagen mit der Muttermilch aufsaugen – und wenn sie es mit derselben Inbrunst täte, wie sie mich auffraß, dann wäre sie vielleicht eines Tages die Erste von uns, die Portugiesisch sprach. Hannes hatte dank seiner gelegentlichen Touren in die Stadt und des Kontaktes zu Käufern unserer Erzeugnisse ein paar Brocken der Landessprache gelernt. Ich selber verstand davon vielleicht gerade zwanzig Wörter, jene nämlich, die Dinge bezeichneten, die es im Hunsrück nicht gegeben hatte. Darüber hinaus sprach ich kein Wort Portugiesisch, und ich sah auch keine Notwendigkeit, es zu lernen. Mein Umgang bestand ausschließlich aus Deutschen. Es war haarsträubend, aber mitten im brasilianischen Dschungel war die Wahrscheinlichkeit, eines Tages fließend niedersächsisches Plattdeutsch zu sprechen, größer als die, korrektes Portugiesisch zu erlernen.
Von den Neuen kamen viele aus Norddeutschland. Eine der Schneisen durch den Urwald hieß sogar »Hamburger Schneis«. Doch der Anteil an Rheinländern und Hunsrückern wuchs stetig. Wir begrüßten sie euphorisch, quetschten sie nach Neuigkeiten aus und fahndeten nach gemeinsamen Bekannten. Einmal hatten wir Glück, der August Schlenz und seine Frau Gertrud kannten den Pfarrer Köhler aus Hollbach, weil der vor Jahren einmal den schwer erkrankten Pfarrer ihres Dorfes vertreten hatte. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich mich über einen unbedeutenden Zufall derart freuen könnte, aber so war es. Die Schlenzens hatten keine Ahnung, wie es dem Pfarrer Köhler heute ging, aber allein dass sie ihn kannten, gab uns ein Zusammengehörigkeitsgefühl, wie wir es unter anderen Umständen nie gehabt hätten.
Insgesamt war die Anzahl der deutschen Siedler im Umkreis von São Leopoldo auf über fünfhundert Seelen angewachsen. Und es würden immer mehr werden. Die Neuankömmlinge berichteten schlimme Dinge aus der Heimat, von Käferplagen über Hagelschäden bis hin zu Hungersnöten gingen die Hiobsbotschaften, je nachdem, wo die Berichterstatter herkamen. Unter den Leidtragenden, so hieß es, spielte jeder, der alle Sinne beisammenhatte und kräftig genug war, einen Koffer zu tragen, mit dem Gedanken, auszuwandern. Viele taten es, wobei es die meisten nach Nordamerika zog.
Unsere Zahl erhöhte sich aber nicht allein wegen der Zuwanderer. Wir »Brasilianer« wurden ja auch mehr: Mehrere andere Frauen hatten Kinder geboren, sieben waren derzeit schwanger. Immer lauter wurde daher der Ruf nach einer Schule. Und der nach einer Kirche, oder besser: zwei Kirchen, denn wir waren etwa gleich viele Katholiken wie Protestanten.
Die Männer trafen sich nun einmal in der Woche, immer im Haus eines anderen, um Angelegenheiten wie diese zu besprechen und in Angriff zu nehmen. Hannes war natürlich mit von der Partie, denn seine Tochter sollte eine gute Christin werden und in ein paar Jahren eine Schule besuchen können. Nachdem er Hilde in den ersten Tagen kaum angesehen hatte, war er jetzt zu einem hingebungsvollen Vater geworden. Sicher hatte die äußerliche Ähnlichkeit der beiden damit zu tun: Hilde war Hannes wie aus dem Gesicht geschnitten, obwohl man bei einem Säugling von zwei Monaten vielleicht nicht allzu viel hineindeuten sollte. Sie war ein sehr hübsches Kind, und Vater und Tochter gaben zusammen ein wirklich goldiges Bild ab.
Ob es daran lag, dass er so verliebt in Hilde war, oder aber daran, dass er sich einen Sohn wünschte, wusste ich
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