Das Mädchen am Rio Paraíso
ebenjener Probleme anging, war er gelassen. Sie hatten schließlich versucht, nach São Leopoldo durchzukommen – schlimmstenfalls konnte man ihm Langsamkeit vorwerfen, nicht aber, dass er seine Bürgerpflichten vernachlässigt hätte.
Die persönlichen Probleme jedoch, die er sich aufzuhalsen im Begriff war, würden nur noch ärger werden. Er wollte sich nicht in eine junge Witwe verlieben, die irgendwelche dunklen Geheimnisse vor ihm verbarg. Dass sie eine kleine Tochter hatte, empfand er nicht als Hindernis, dass Klara womöglich schwerwiegende seelische Störungen hatte, dagegen schon. Zunächst mussten die näheren Umstände aufgeklärt werden, unter denen ihr Mann zu Tode gekommen war. Vorher würde er, Raúl, sich nicht erlauben, an ihre Unschuld zu glauben.
Ach, er machte sich etwas vor! Im Grunde glaubte er doch bereits an ihre Unschuld. Er hatte nun so viel Zeit mit Klara verbracht, sie besser kennengelernt, als es für zwei unverheiratete junge Leute üblich und schicklich war. Und sein Gefühl sagte ihm, dass Klara selber ein Opfer war. Aber wann hätte er je auf seinen Bauch gehört? Sein Kopf bestimmte sein Handeln, hatte es immer schon getan. Er sollte von dieser Regel auch jetzt keine Ausnahme machen. Doch es war zu spät. Er hatte ihr seinen Vorschlag unterbreitet, und an Klaras Lächeln erkannte er, dass sie im Begriff war, ihn anzunehmen. Einen Rückzieher konnte er jetzt nicht mehr machen. Verdammt!Zwei Tage später brachen sie auf. Aninha und den Stallburschen hatten sie zurückgelassen, um nicht mit zwei Wagen reisen zu müssen und auf dem einen all ihr Gepäck verstauen zu können. Außerdem sollten die beiden ein Auge auf das Stadthaus haben, es in Schuss halten und dafür sorgen, dass im Juni, wenn Raúl erneut nach Porto Alegre käme, innen wie außen alles sauber und ordentlich war. Dass die beiden irgendwelchen Unfug trieben, war nicht zu befürchten: Die Sklaven der umliegenden Häuser, darunter auch Luiz, waren mindestens ebenso peinlich auf die Einhaltung der guten Sitten bedacht wie ihre Herrschaften.
Aus der Stadt heraus fuhren sie alle auf dem Wagen, Raúl vorn auf dem Kutschbock, Teresa und Klara hinten, wie zwei Passagiere einer Mietdroschke. Das zweite Pferd trottete hinter dem Gefährt her. Erst als sie das Stadtgebiet verlassen hatten, band Raúl das zweite Pferd los und ritt auf ihm, während Teresa und Klara sich mit den Zügeln des vorgespannten Pferdes abwechselten. Teresa tat dies erst nach längerem Lamentieren, sie sei schließlich eine Haussklavin und keine Feldnegerin, die man zu so niederen Arbeiten heranziehen dürfe. Doch das Zugpferd war freundlich und gehorsam, und weil Raúl ohnehin den Weg vorgab, war es ganz einfach, die Zügel zu halten. Irgendwann begann Teresa sogar Spaß dabei zu haben. Sie dachte an Luiz und an sein ungläubiges Gesicht, wenn sie ihm von diesem Abenteuer erzählte.
Sie übernachteten in einer kleinen Ortschaft, in deren einziger Herberge Raúl anscheinend regelmäßig abstieg. Das Essen war gut, die Kammern und Betten waren schlicht, aber sauber. Klara spürte jeden Stein, über den sie gefahren waren, in ihren Knochen. Auch ihr Hinterteil schmerzte, denn so dicke Kissen, die das Holpern ihres Gefährts abgefangen hätten, gab es gar nicht. Am liebsten wäre sie ebenfalls geritten, der Sattel sah eindeutig bequemer aus als die Holzbank der Kutsche. Selber reiten konnte sie nicht, obwohl es ziemlich einfach aussah. Dafür erwischte sie sich bei der Vorstellung, wie sie eng an Raúl geklammert auf dem Pferd saß. Oder säße sie dabei vor ihm, würde seine breite Brust an ihrem Rücken spüren und seine Arme, die an ihrer Taille vorbei die Zügel hielten? Beide Bilder waren gleichermaßen verstörend – und erregend. Oh Gott, sie war wirklich verderbt bis ins Mark. Wo war ihre katholische Erziehung geblieben? Wahrscheinlich begraben auf einer abgelegenen Parzelle in der Baumschneis, zusammen mit ihren Illusionen von einer besseren Zukunft und einem glücklichen Familienleben.
Sie teilte sich die Kammer mit Teresa. Die Schwarze, die während Klaras Genesung jeden Winkel von deren Körper zu sehen bekommen hatte, war selber sehr schamhaft. Sie bat Klara, sich umzudrehen, als sie sich ihre Nachtwäsche anzog, und den Raum zu verlassen, als sie den Nachttopf benutzte. Klara respektierte ihre Wünsche. Manche Leute wurden mit zunehmendem Alter einfach schrullig. Oder begannen zu schnarchen. Teresas leises Grunzen hinderte Klara allerdings
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