Das Mädchen am Rio Paraíso
allem Überfluss haben wir eine üble Maikäferplage. Die Biester sind unersättlich, und in der Furcht, sie ließen uns von dem wenigen gar nichts mehr übrig, haben wir nun beschlossen, die Kinder über die Felder zu schicken und die Käfer einzusammeln. Einige, insbesondere ein paar Mädchen, ekeln sich, aber ich denke, wenn wir ihnen eine Art Belohnung versprechen, werden sie schon spuren.
Die Werber sind einige Male wiedergekommen. Bei den meisten Leuten rennen sie offene Türen ein. Die Armut und das Leiden der Bevölkerung scheinen stetig zu wachsen, und der einzige Ausweg ist für viele, in der Ferne ihr Glück zu suchen. Aber was soll aus dem Hunsrück werden, wenn alle Jungen, Starken und Gesunden weggehen?
Erneut übersprang ich einige Zeilen. Ich wollte nicht, dass die Gäste der Taufe mitbekamen, wie sehr mich Hildegards Beteuerung, sie könne meine und Hannes’ Entscheidung verstehen, erschütterte.
Konnte sie das wirklich? War es nicht vielmehr ein versteckter Vorwurf? Fand sie, wir hätten dortbleiben und die Stellung halten müssen, anstatt die Alten und Schwachen ihrem Schicksal zu überlassen? Wenn man es so ausdrückte, klang unsere Auswanderung wie ein Verrat. Aber wem nützte es, wenn auch die Jungen und Starken hungerten? Wenn sie nur mehr Kinder in die Welt setzten, die ebenfalls leiden würden? Wenn die Grundstücke wegen der Erbteilung immer kleiner wurden, bis sie ihre Besitzer nicht mehr ernähren konnten? Ich schluckte meinen Unmut herunter und mit ihm all die Erwiderungen auf die unausgesprochenen Vorhaltungen meiner Schwester. Sie hörte mich ja doch nicht. In ein paar Monaten würde sie meinen nächsten Brief lesen können – aber in dem würde ich natürlich auch keinen Streit vom Zaun brechen. Ein Familienzwist über den Atlantischen Ozean hinweg, lachhaft!
Weil keine weiteren Absätze über politische Umwälzungen oder dergleichen mehr in dem Brief standen – wobei ich bezweifelte, dass man diese in Ahlweiler überhaupt zur Kenntnis nehmen würde, es sei denn, die Franzosen hätten unsere Region wieder vereinnahmt –, las ich eine Passage vor, die gut zu dem heutigen Tag passte und die unser aller Interesse wieder auf die Gegenwart lenken würde.
Dein Brief erreichte uns Anfang Mai. Inzwischen müsste Euer Kind geboren sein. Ich hoffe, Du hast es gut überstanden, zweifle aber nicht daran, denn Du warst immer schon die Zäheste von uns. Und natürlich wünsche ich Dir und Hannes, dass das Kind gesund und wohlauf ist. Wie schade, dass ich Dir nicht zur Seite stehen konnte, und wie traurig, dass ich nicht seine Patin werden kann. Ich betrachte mich trotzdem einfach als seine Patentante, denn ich bin mir sicher, dass Du, wäre das Kind hier zur Welt gekommen, mir diese Ehre hättest zuteilwerden lassen. Du musst mir alles über Dein brasilianisches Kleines erzählen, ob es ein Junge oder Mädchen ist, wie es heißt, wem es ähnlich sieht, wo und von wem Ihr es taufen lasst, wer die glücklichen Paten sind und und und. Wir alle hier schicken Euch jedenfalls die allerbesten Wünsche, auch nachträglich zu Eurer Hochzeit.
An dieser Stelle beendete ein Zwischenruf von Gertrud Schlenz meine Lektüre: »Na, wenn sie da nicht den perfekten Zeitpunkt für ihre Glückwünsche abgepasst hat!«
Dasselbe hätte man auch von Gertruds Einwurf sagen können, den ich zum Anlass nahm, den Brief zusammenzufalten und mich wieder dem Geschehen um mich herum zu widmen. »Wobei ja eigentlich der Winterfeld derjenige war, der den Zeitpunkt bestimmt hat. Ich finde, dafür hat er sich jetzt eine kleine Stärkung verdient. Und wir anderen auch.«
Hannes hievte ein Fässchen mit selbstgebranntem Schnaps von unserem Karren, und nach Schulterklopfen, Händeschütteln und weiteren Glückwünschen prosteten wir uns alle zu.
Erst da erwachte Hilde. Ihr durchdringender Schrei klang derart empört – als wolle sie sich beschweren, weil sie als Einzige nichts abbekam –, dass alle Gäste laut herauslachten.
Nur der Pfarrer Zeller verzog keine Miene. Und mir war ebenfalls nicht mehr nach Lachen zumute.
Ich zog mich in eine ruhige Ecke des Pfarrhauses zurück und stillte das Kind, während ich von draußen das fröhliche Stimmengewirr vernahm, auf das ich mich so gefreut hatte.
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A n einem klaren, kühlen Morgen war es so weit: Klara würde erstmals das Gutsgelände auf einem Pferderücken verlassen. Sie war sehr aufgeregt – nicht, weil sie den Ritt besonders gefürchtet hätte, sondern
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