Das Mädchen am Rio Paraíso
Köstlichkeiten eingepackt hat.« Raúl förderte den Proviant aus seinen Satteltaschen zutage. Es war kein üppiges Mahl, das sich daraus bestreiten ließ. Aber für eine kleine Stärkung, wie man sie auf einem Ausflug brauchte, der nicht mehr als drei Stunden dauern sollte, war es mehr als genug. Es gab Brot, hartgekochte Eier, Käse sowie einige Stücke Schokoladenkuchen. Beide machten sich gierig darüber her. Als ihre Blicke sich trafen, mussten beide lachen. Die Erinnerung an eine ähnliche Situation, die jedoch unter einem anderen Vorzeichen gestanden hatte, war noch frisch.
»Im Dschungel war unsere Tafel reicher gedeckt«, meinte Raúl. Klara hätte gern etwas darauf erwidert, doch ihr fielen die richtigen Vokabeln nicht ein, so dass sie schwieg.
Sie saßen auf einer bröckelnden Kante der halb eingestürzten Mauer, wo sich einst ein Fenster befunden hatte. Diese Seite des Häuschens lag im Schatten, in dem es relativ frisch war. Klaras Härchen auf den Armen richteten sich auf.
»Warte, bis ich dir erzählt habe, was in der Zeitung stand. Dann wirst du erst recht eine Gänsehaut bekommen.«
»Ah?« Mehr wusste sie darauf nicht zu sagen.
Raúl räusperte sich. »Also, der ›Jornal da Tarde‹ hat die Geschichte von dem tragischen Unfall bei euch wieder aufgegriffen. Daran bin ich schuld, denn ich war in der Redaktion und habe mich bei dem zuständigen Journalisten nach Details erkundigt.«
Klara war fassungslos.
Das
hatte er getan? Und sie hatte geglaubt, ihn längst von ihrer Unschuld überzeugt zu haben.
»Sei nicht böse. Das war vor unserer missratenen Bootsfahrt, und ich wollte wissen, was genau sich da draußen zugetragen hatte, bevor ich mit dir in die Höhle des Löwen ging.«
»Und?«
»Und es kam nicht viel dabei heraus. Aber ich schwöre, dass ich diesem Redakteur gegenüber kein Wort über dich habe fallenlassen. Trotzdem bist du – sind wir – Gegenstand eines neuen Artikels. Hier.« Damit zog er den zusammengefalteten Zeitungsausschnitt aus seiner Westentasche.
Klara nahm ihn entgegen und las angestrengt den Text, von dem ihr wegen ihrer noch immer mangelhaften Sprachkenntnisse die Hälfte entging. Grob jedoch erschloss sich ihr der Inhalt. Die vermisste Deutsche, von der man angenommen hatte, sie sei bei dem Überfall zu Tode gekommen, erfreue sich bester Gesundheit, stand da sinngemäß. Sie habe bei einem ehrbaren Mitglied der Gesellschaft Unterschlupf gefunden, offenbar unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Die Behörden seien informiert, doch sowohl ihr Beschützer als auch die Verdächtige selbst hätten sich dem Zugriff der Polizei entzogen.
Klara stand ihre Bestürzung deutlich ins Gesicht geschrieben. Wie hatte Raúl es wagen können, sich mit ihrer persönlichen Tragödie an die Presse zu wenden? Und warum war die Geschichte derart verzerrt wiedergegeben, dass man sie für schuldig halten
musste?
»Nun schau mich nicht so schockiert an. Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte, habe aber eine Theorie. Mein Freund, Paulo Inácio, wusste nichts über dich, genauso wenig der andere Schreiberling, Alves da Costa. Ich habe nur gesagt, ich erkundige mich für eine Bekannte, die entfernt mit der Sache zu tun hätte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie daraus die richtigen Folgerungen gezogen haben. Was ich mir hingegen sehr gut vorstellen kann, ist, dass Senhorita Josefina, die laut Teresas Beobachtungen auf offener Straße mit Paulo Inácio schäkert, sich vielleicht etwas zusammengereimt hat – immerhin hat sie dich bei mir im Haus gesehen. Im Gespräch zwischen den beiden ergab dann wahrscheinlich eins das andere. Paulo Inácio hat vielleicht erwähnt, dass ich mich in einer merkwürdigen Angelegenheit an seinen Kollegen gewandt habe, oder er hat Josefina vielleicht gefragt, ob sie etwas von einer Frau wisse, die mit dem Vorfall in São Leopoldo zu tun hat. Woraufhin sie vermutlich ihre Schlüsse gezogen und sie eiligst meinem Freund mitgeteilt hat.« Er lachte trocken auf. »Meinem ehemaligen Freund.«
Klara traten Tränen in die Augen. Mein Gott, nun hatte sie auch noch Raúl mit ins Verderben gerissen, ihn, der doch nur hilfsbereit gewesen war und den nicht die geringste Schuld an irgendetwas traf. Eine alte Freundschaft war in die Brüche gegangen, und nun musste er sich auch noch gesetzeswidriges Verhalten vorwerfen lassen. Und seine Schwärmerei für die fesche Josefina schien, Raúls Tonfall nach zu urteilen, ebenfalls argen Schaden genommen zu
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