Das Mädchen am Rio Paraíso
weil sie sich so darauf freute, einmal mit Raúl zusammen zu sein, ohne dass sie beobachtet wurden. Sie gab sich an diesem Morgen sehr viel Mühe mit ihrer Aufmachung, steckte das Haar sorgfältig hoch und eine Blume an das Revers des kurzen Reitjäckchens, das für sie den Gipfel an Eleganz bedeutete. Etwas so Feines zum Anziehen hatte sie noch nie besessen, und heute trug sie es zum ersten Mal. Vorher war es draußen noch viel zu warm dafür gewesen.
Sie sah umwerfend aus, fand Raúl, als er sie zum verabredeten Zeitpunkt in der Halle traf. Ganz gleich, wie sie sich beim Reiten anstellte: Der Ausflug wäre, jedenfalls für ihn, ein Genuss. Allzu oft gönnte er sich ohnehin keine Ausritte, die einzig und allein dem persönlichen Vergnügen dienten. Er hätte dem Tag mit großer Vorfreude entgegengesehen, wenn da nicht dieser Zeitungsartikel gewesen wäre, der ihn permanent beschäftigte. Nicht, dass es eine große Qual bedeutet hätte. Es war mehr wie ein Steinchen im Schuh oder ein Stachel in der Fingerspitze – ein Ärgernis, das man vorübergehend ausblenden konnte, das einem jedoch insgesamt Unbehagen bereitet. Er würde versuchen, mit Klara drüber zu reden, obwohl es eigentlich eher sein Problem war als ihres.
Die Pferde standen fix und fertig für sie im Hof bereit. Der Stallbursche hielt Klara seine verschränkten Hände als Steigbügel hin, und sie saß ebenso schwungvoll wie graziös auf. Raúl konnte sich gar nicht sattsehen an ihr, wie sie da, in ihrem schicken Jäckchen und den dünnen wildledernen Handschuhen ganz die feine Dame, im Sattel saß. Eine Art Besitzerstolz erfüllte ihn, und er musste sich gezielt in Erinnerung rufen, dass er weder ihr Besitzer war noch sie jemals würde besitzen können. Der Tag ihrer Abreise nach Porto Alegre rückte unaufhaltsam näher, und wenn er sie erst auf das Boot nach São Leopoldo verfrachtet hätte, würde er sie wahrscheinlich nie wiedersehen. Zu unterschiedlich waren ihre Lebenswelten, als dass ihre Wege sich wieder kreuzen würden. Zumindest nicht zufällig.
Klara wunderte sich über den entrückten Ausdruck in Raúls Gesicht. Anstatt ihn in die Gegenwart zurückzuholen, nutzte sie die Gelegenheit, um ihn von Kopf bis Fuß zu mustern. Was für einen prachtvollen Anblick er bot! Er trug die typische Gaúcho-Montur: die
bombacha,
die schwarze Pluderhose, die in den
botas,
den Lederstiefeln mit Ziehharmonika-Schaft, steckte; ein weißes Baumwollhemd, ein rotes Halstuch, darüber einen
ponche,
einen dichtgewebten Umhang. Die
guaicá
war unter dem Poncho verborgen, aber Klara hatte inzwischen schon viel über Sitten und Gebräuche der Gaúchos gelernt und wusste ganz einfach, dass Raúl diesen breiten Ledergurt trug, in dem Fächer zur Aufbewahrung von Messer, Tabak und anderen Dingen eingearbeitet waren. Kein Mann, der auf sich hielt, verließ jemals ohne
guaicá
das Haus beziehungsweise dessen nähere Umgebung. Raúl trug außerdem einen flachen Lederhut sowie kostbare silberne Sporen, Letztere das einzige deutliche Zugeständnis an seinen Stand. Seine Arbeiter trugen eiserne Sporen.
Die Tracht der Gaúchos hatte nur einen einzigen Nachteil: Sie war sehr weit und bequem geschnitten. Einzelheiten des Körpers, der sich darin befand, waren nicht zu erkennen. Klara bedauerte dies einen Moment. Zu gern hätte sie sich an dem Spiel der Muskeln ergötzt, an dem straff gespannten Stoff über den Oberarmen, wenn Raúl die Zügel anzog, oder an seinen kräftigen Oberschenkeln, wenn er sie an die Flanken des Pferdes presste. Oh Gott, war sie von Sinnen? Sie verbot sich jeden weiteren Gedanken an die Beschaffenheit von Raúls Körper. Schroff sagte sie:
»Estou pronta.
«
– »Ich bin fertig.«
»Ja, ich auch. Auf geht’s.«
Sie ritten in gemächlichem Trab. Der Frühnebel hatte sich noch nicht ganz verflüchtigt. Wie ein Gazeschleier lag er über der Landschaft und verlieh ihr einen märchenhaften Zauber. Im Gras und auf den Blättern der Sträucher entlang der Lehmstraße schimmerten Tautröpfchen. Da, wo die Morgensonne sich ihren Weg durch die Nebelschwaden bereits gebahnt hatte, glitzerte und funkelte es so stark, dass Klara und Raúl geblendet wurden und die Augen zusammenkneifen mussten. Die Vögel gaben ihr allmorgendliches Konzert, wobei dieses hier nicht annähernd so laut und schrill war wie das Geschrei der Vögel im Urwald. Ein lustiges Zwitschern, fast wie zu Hause im Hunsrück, dachte Klara. Die Luft duftete nach Gras und feuchter Erde. Eine
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