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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Mut und Hoffnung, als es sein Inhalt gerechtfertigt hätte. Vieles, was Hildegard erzählte, war nämlich gar nicht erfreulich. Ich mochte nicht glauben, dass das Leid der anderen mir mein eigenes erträglicher machte. Vielmehr führte ich die tröstliche Wirkung des Briefes darauf zurück, dass das Wissen, nicht völlig auf mich allein gestellt zu sein, mir Halt gab. Mein Mann mochte invalide sein, ich mochte mit einem Kleinkind im Urwald hocken – aber ich hatte ja eine Familie! Da gab es Menschen, denen ich etwas bedeutete, deren Schicksal umgekehrt auch mir naheging. Dass meine Leute unendlich weit entfernt von mir waren und ich ihnen wohl nie mehr im Leben von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde, spielte dabei keine Rolle. Der Briefwechsel allein, so selten auch Post kam, munterte mich auf.
    Es ginge ihnen allen gut, berichtete Hildegard, nur um im Verlauf ihres Briefes immer mehr traurige Nachrichten zu enthüllen. Das erste Kind vom Matthias, der seine Anna endlich geheiratet hatte, war tot geboren worden. Hildegards und Theos viertes Kind war unterwegs, aber ihre Tochter, mein Patenkind, hatte die Kinderlähmung bekommen und würde nun für den Rest ihres Lebens entstellt und behindert bleiben. Ursula war von ihrem Mann halb totgeschlagen worden und hatte Zuflucht in ihrem Elternhaus in Ahlweiler gesucht, war jedoch von Theo zurück zu ihrem gewalttätigen Ehemann geschickt worden, weil dort ihr Platz sei und weil es das Recht eines Mannes sei, sein aufsässiges Weib zu züchtigen. Die alte Agnes war gestorben, und die Kuh vom Strickhausen hatte ein Kalb mit zwei Köpfen bekommen, das seitdem die größte Attraktion weit und breit war. Über unseren Vater schrieb sie indes so gut wie nichts. Ich nahm an, dass sein Zustand bestenfalls unverändert war, wahrscheinlich jedoch sich zum Schlechteren entwickelt hatte. Und dann berichtete sie noch etwas, das mich nun, ein gutes Jahr nach unserer Abreise aus dem Hunsrück, die damaligen Ereignisse schlagartig verstehen ließ.
    Stell dir vor: Der Bruder des Mädchens, das der Hannes damals angeblich ins Unglück gestürzt hat, was sich gottlob als Falschmeldung erwies, kreuzte neulich wieder bei uns auf. Hannes Wagner habe ihn zum Krüppel geschlagen und er fordere von uns, die wir ja durch deine Heirat mit Hannes verwandt seien, eine Entschädigung. Theo hat ihm ins Gesicht gelacht und gesagt, wir hätten kein Geld übrig, um Faulenzer wie ihn durchzufüttern, und im Übrigen solle er seine gebrochene Nase nicht in unsere Familienangelegenheiten stecken.
    Ich fasste es nicht. Unsere überstürzte Abreise, Hannes’ plötzliche Großzügigkeit, dank deren ich mir die Reisekosten nicht vom Munde absparen musste, sein Veilchen, die hässlichen Gerüchte, denen ich keinen Glauben geschenkt hatte, Hannes’ Weigerung, selber mal einen Brief an seine Leute zu schreiben – all das ergab plötzlich einen Sinn. Ich fragte mich nun auf einmal, warum mir nicht früher schon Zweifel gekommen waren, aber die Antwort lag ja auf der Hand. Ich war so erpicht auf die Reise nach Brasilien gewesen, dass ich alles Störende einfach verdrängt hatte. Und so würde ich es auch jetzt halten. Hannes hatte immerhin kein entehrtes Mädchen zurückgelassen, und ihrem Bruder hatte er, wie’s schien, nur die Nase gebrochen. Ich beschloss, den Vorfall in die hinterste Ecke meines Hirns zu verbannen.
    Hildegard hatte bestimmt nur das Nötigste erzählt, um mir in der Ferne Kummer zu ersparen. Die vielen kleineren Tragödien des Alltags, die in ihrer Gesamtheit nicht minder niederschmetternd sein konnten als die großen, hatte sie nicht erwähnt. Etwa dass die Hälfte der Äpfel wurmstichig war, dass eines der Kinder stark schielte, dass die Hühner vom Bussard geholt worden waren oder dass der Preis für Schnupftabak schon wieder gestiegen war – solche und ähnliche Dinge verschwieg sie mir. Ich verstand sie. Ich würde es umgekehrt ebenfalls so halten. In meiner Antwort, so beschloss ich, würde auch ich ein wenig ehrlicher sein als in dem ersten Brief und nicht alles beschönigen. Aber die kleinen Schrecken des täglichen Lebens, die mir zunehmend zu schaffen machten, würde ich ihr vorenthalten.
    Ich schrieb also von Hildchens Geburt und Taufe, von der Freude, die uns dieses Kind machte und was für ein Geschenk des Himmels sie war. Ich berichtete natürlich ebenfalls von Hannes’ Verletzung, wobei ich die grausigen Einzelheiten der Operation ausließ. Ich wollte sie ja

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