Das Mädchen am Rio Paraíso
selber am liebsten aus meiner Erinnerung löschen. Ich schilderte ihr stattdessen die Schwierigkeiten, mit denen ich seither zu kämpfen hatte – und die nur noch ärger werden konnten.
Zweieinhalb Monate waren seit dem schrecklichen Tag verstrichen, an dem wir Hannes’ Bein amputiert hatten. Mitten im Frühling konnte sich auf unserem Grundstück keiner um die Aussaat kümmern, denn Hannes lag ja darnieder, und ich hatte alle Hände voll mit seiner und Hildchens Pflege zu tun. Der Urwald nahm sich bereits Teile unseres Landes zurück. Es war jetzt, Anfang Dezember, bereits sommerlich warm und feucht-schwül. Alles wuchs und gedieh in unglaublicher Geschwindigkeit – nur nicht unsere Nutzpflanzen. Wir würden weder Mais noch Zuckerrohr oder Bohnen ernten können. Wir schlitterten sehenden Auges in eine Katastrophe. Hunger würden wir zwar nicht leiden müssen, denn erstens kannten wir mittlerweile längst die essbaren Früchte und Tiere des Waldes, der davon einen schier unerschöpflichen Reichtum bot, und zweitens wurden wir von unseren Nachbarn mit dem Wichtigsten versorgt. Doch auf Dauer konnte das ja so nicht weitergehen.
Hannes war nach dem schlimmen Eingriff schnell genesen. Die Wundheilung war vorbildlich verlaufen, und nach etwa zwanzig Tagen hätte er durchaus wieder aufstehen können. Aber er hütete weiterhin das Bett, in dem er sich in seinem Schweiß und in seinem Elend suhlte. Nachdem er sich wochenlang geweigert hatte, es überhaupt einmal mit Gehen zu versuchen, hatte er sich kürzlich immerhin eine Krücke geschnitzt, diese jedoch nie benutzt. Mitsamt dem Bein, so schien es, waren ihm auch sein Optimismus und seine Tatkraft abhandengekommen. Er war träge geworden. Er mied jede überflüssige Bewegung, und auch das Denken hatte er völlig eingestellt. Er gab sich keinerlei Mühe, sich wenigstens einmal Gedanken darüber zu machen, wie wir die Zukunft in Angriff nehmen sollten. Um ihn aufzumuntern, unterbreitete ich ihm täglich neue Ideen, die er alle mit einer barschen Geste abtat.
»Du könntest dich doch aufs Schnitzen verlegen«, schlug ich einmal vor. »Alle Besucher bewundern unsere schöne Tür, und ich bin mir sicher, dass einige etwas Vergleichbares bei dir in Auftrag geben würden, wenn sie nur wüssten, dass du solche Aufträge annimmst.«
»Pah«, sagte er daraufhin, »dann kämen sie alle und würden aus reiner ›Nächstenliebe‹ Schnitzarbeiten anfertigen lassen – damit der Sack Bohnen, den sie uns im Gegenzug dalassen, nicht ganz so nach Almosen aussieht.«
Ein anderes Mal versuchte ich ihn mit einem Einfall aus seiner Stumpfsinnigkeit zu reißen, den ich selber ein wenig abwegig fand.
»Erlerne doch einen neuen Beruf. Einen, wo man auch mit nur einem Bein gut zurechtkommt. Der Johann Rüb, der ja Schustermeister ist, würde dich mit Kusshand als Lehrling nehmen.«
»Ha, ein Schuster, der für die anderen Leute das anfertigt, wovon er selber nur noch die Hälfte braucht.« Hannes lachte bitter auf. »Außerdem bin ich Tischlergeselle, du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich jetzt noch mal eine Lehre mache.«
Nein, das glaubte ich tatsächlich nicht. Dennoch ärgerte es mich, dass er all meine Vorschläge verwarf, ohne wenigstens kurz darüber nachgedacht zu haben, so als wären sie ohnehin nichts wert, nur weil sie von mir kamen. Genauso erregte es meinen Unmut, dass Hannes, wenn er schon für die Feldarbeit ausfiel, sich nicht wenigstens in Haus und Vorgarten nützlich machte. Er hätte zum Beispiel durchaus auf das Kind aufpassen und das Essen zubereiten können. Er hätte die Hühner füttern oder die Kuh melken können. Aber das waren ja alles Frauenarbeiten, und für die war er sich zu schade. Letztlich lief es darauf hinaus, dass alles an mir hängenblieb, sowohl die Frauen- als auch die Männeraufgaben. Und weil es schon für zwei Personen mehr Arbeit gewesen war, als man schaffen konnte, war ich allein hoffnungslos überfordert.
Ich dachte immer öfter über das Angebot von Christel und Franz nach, Hildchen vorübergehend bei sich in Pflege zu nehmen. Für mich wäre es eine große Erleichterung gewesen. Allerdings hatte die Sache zwei große Nachteile. Zum einen würden unsere Freunde das Kind mit verdünnter Kuhmilch füttern müssen, denn Hildchen hing ja noch an der Brust. Mir war nicht wohl bei der Vorstellung, sie so abrupt abstillen zu müssen und dann auch noch in die Obhut anderer zu geben. Bestimmt würde sie irgendeinen Schaden davontragen.
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