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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Tinte war, hatte ich gemerkt, als mir damals das Fässchen heruntergefallen war. Ich wollte die Tinte nicht dadurch verschwenden, dass ich zu erschöpft war, um die Feder zu halten. Aber wann sonst hätte ich den Brief schreiben sollen? Die Versorgung meiner Familie ging nun einmal vor.
    Eines Abends, als ich wieder vollkommen ermattet über dem Papier hockte und mich zwang, wach zu bleiben, bemerkte ich aus dem Augenwinkel eine ungewohnte Bewegung vor dem Fenster. Es war kein herunterfallendes Blatt, kein sich im Wind wiegendes Gras und auch kein Vogel oder eine Fledermaus. Es war etwas Größeres. Ich war auf der Stelle hellwach. Doch ich rührte mich nicht vom Fleck. Ich blieb weiterhin mit gesenktem Kopf sitzen, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Wenn dort draußen ein Tier oder ein menschlicher Eindringling war, dann sollte dieses Wesen sich unbeobachtet glauben. Ich wollte es sehen, wollte wissen, womit ich es zu tun hatte.
    »Hannes«, rief ich leise. »Da draußen ist etwas.«
    Er antwortete nicht. Wahrscheinlich war er bereits eingeschlafen. Vor lauter Herumliegen war er nämlich andauernd müde. Allerdings hörte ich ihn auch nicht schnarchen.
    »Hannes, wach auf«, rief ich im Flüsterton, eindringlicher diesmal. »Draußen ist jemand. Ich habe Angst.«
    Da ich nicht aufstehen mochte und mit dem Rücken zu der angelehnten Tür saß, konnte ich nicht sehen, ob Hannes die Augen geöffnet hatte oder auf irgendeine Weise zu erkennen gab, dass er mich gehört hatte.
    Mein Herz hämmerte. Ich wagte einen seitlichen Blick durchs Fenster. Nichts. Dann raffte ich all meinen Mut zusammen und erhob mich, um nachzusehen. Nur ein schneller Blick durch die Haustür, der würde mich schon nicht umbringen. Wenn es ein wildes Tier war, konnte ich ihm die Tür vor der Nase zuschlagen. Und wenn es sich um einen Indio handelte, der vielleicht in räuberischer Absicht auf unser Gelände eingedrungen war, dann würde ich ihn mit Hannes’ Hilfe schon verjagen.
    Ich riss die Tür mit einem Ruck auf. Dann hörte ich plötzlich ein Schwein quieken, sah ein menschliches Bein, das gerade hinter einer Staude verschwand, spürte mit meinen aufs äußerste geschärften Sinnen Hannes’ Atem auf meinem Haar und erschrak darüber mehr als über die Entdeckung, dass wir es mit einem gemeinen Dieb zu tun hatten. Ich zuckte zusammen.
    »He, bleib stehen, du Dieb!«, brüllte Hannes, bevor er mich kaum weniger laut anfuhr: »Worauf wartest du? Lauf ihm nach! Hol unsere Sau zurück!«
    Ich sah ihn an, als wäre er ein Gespenst. Es war das erste Mal seit der Operation, dass er in meiner Gegenwart aufrecht stand. Er musste es geübt haben, denn er war geschickt und flink im Umgang mit seiner Krücke. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen, aber er sah mir nicht danach aus, als ob er jetzt Verständnis für derlei aufgebracht hätte. Dem Dieb hinterherlaufen wollte ich ebenso wenig. Ich hatte Angst, und lieber opferte ich unsere kostbare Sau als mein Leben bei dem Versuch, sie zurückzuholen. Ich zögerte. Dann dachte ich mir, dass der Anlass, Hannes’ »Auferstehung«, eine besondere Geste meinerseits erforderte. Ich rannte los.
    Vor dem Schuppen schnappte ich mir die Heugabel. Ich lief, schwenkte meine Waffe und brüllte aus vollem Hals. Sämtliche Schimpfwörter, die mir einfielen, schrie ich dem gemeinen Kerl hinterher. »Du Hundsfott, bleib stehen! Halunke, hinterhältiger Mistkerl! Kanaille! Niederträchtiger Lump! Du Drecksack, Teufel, du! Rück die Sau wieder raus, sonst setzt es was mit der Mistgabel!« Aber er war längst über alle Berge. Selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, dürfte meine Schimpftirade ihn nicht sonderlich beeindruckt haben – wenn es sich tatsächlich um einen Indio gehandelt hatte, was aufgrund des nackten Beines anzunehmen war, dann verstand er ohnehin kein Wort davon. Und ob eine Frauenstimme ihm Furcht einjagte, bezweifelte ich ebenfalls.
    Ich hielt erst inne, als ich mitten im Urwald und außer Sichtweite des Hauses war. Bedrückt und mit hängenden Schultern schlich ich heim. Ich hatte versagt. Die Sau hatte zu unseren wertvollsten Gütern gehört. Was sollten wir mit dem Eber anfangen, wenn keine Sau da war? Wir hatten darauf gesetzt, dass wir uns in Zukunft über unsere Fleischvorräte keine Gedanken mehr würden machen müssen. Die beiden Tiere hatten den Grundstock einer kleinen Schweinezucht bilden sollen, die nicht nur einträglich war, sondern auch – wobei sich dies ja erst im

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