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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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Allerdings würde sie das wohl ebenfalls tun, wenn sie mit mir zusammen in der Gluthitze der Felder wäre oder aber zusammen mit Hannes in der erdrückenden Stille des Hauses bliebe. Der andere Nachteil, den ich mir vor Augen hielt, war die möglicherweise verlangsamte Genesung meines Mannes. Ich versprach mir von Hildchen eine heilende Wirkung auf Hannes’ kränkelnde Seele. Irgendwann würde er schon wieder zur Besinnung kommen. Er würde seine niedliche Tochter anblicken und sich ihr zuliebe einen Ruck geben – hoffte ich.
    Natürlich schilderte ich meiner Schwester die Vorkommnisse und die Stimmung bei uns zu Hause nicht in all diesen Einzelheiten. Aber ich ging immerhin so weit, ihr zu beichten, dass mich am meisten nicht der eigentliche Verlust von Hannes’ Bein betrübte, sondern die Beschwernisse, die sich daraus ergaben. Ich musste beim Formulieren sehr genau achtgeben, denn in Ahlweiler würde mein Brief sicher wieder die Runde machen, und auf keinen Fall wollte ich meine Schwester oder meine Familie in irgendeiner Weise bloßstellen. Auch Hannes’ Eltern würden den Brief lesen, dafür hätte ich meine Hand ins Feuer gelegt. Warum Hannes noch nicht selber zur Feder gegriffen und warum die Wagners noch nichts von sich hatten hören lassen, wunderte mich nun nicht mehr. Ich war mir ziemlich sicher, dass das Geld für unsere Reise, der angeblich vorzeitig ausbezahlte Erbteil, ursprünglich dafür gedacht war, die Familie des mir unbekannten Mädchens zu besänftigen. Stattdessen hatte Hannes sich aus dem Staub gemacht, ohne diese unschöne Angelegenheit befriedigend geklärt zu haben. Dass das Mädchen anscheinend doch nicht schwanger war, hatte sich wahrscheinlich erst nach unserer Abreise herausgestellt. Ein Glück für Hannes und unsere Familien im Hunsrück. Es hätte auf alle ein sehr schlechtes Licht geworfen. Ich stellte mir vor, wie die alten Wagners dreingeschaut haben mussten, als eines Tages dieser Bruder des Mädchens vor der Tür gestanden und gebettelt hatte. Bestimmt hegten sie einen Groll auf Hannes.
    Ich hatte Hannes vor Monaten, als alles noch in Ordnung war, gefragt, warum er selber nie nach Hause schrieb, aber er hatte die viele Arbeit vorgeschoben. Ich glaubte zu wissen, dass er erst dann schreiben wollte, wenn er es zu etwas gebracht hätte. Eine katholische Frau, ein ebenfalls katholisch getauftes Kind, noch dazu eine Tochter, ein winziges Häuschen und ein paar ergiebige Äcker waren nicht das, was Hannes seinen Leuten berichten wollte. Insgeheim hatte er vielleicht davon geträumt, vor seinem Vater mit irgendeinem spektakulären Erfolg auftrumpfen zu können.
    Nun, jetzt hatte sich das erledigt. Vom Verlust seines Beines würde er erst recht nicht gerne erzählen. Wenn es wenigstens einem Raubtier zum Opfer gefallen wäre, ja, da hätte er sich als Held darstellen können. Aber ein Kratzer, den man sich an einem rostigen Nagel zugefügt hatte, gehörte eindeutig nicht zu den Dingen, die man zur Heldentat umdichten konnte. Dennoch erfuhren es ja seine Leute in der alten Heimat – weshalb er es besser selber berichtet hätte. Die Zeit dazu hatte er jetzt auch. Ich machte ihn darauf aufmerksam, aber Hannes antwortete lahm: »Schreib, was du willst. Grüß alle von mir. Aber verlange bloß nicht, dass ich mein Unglück auch noch selber niederschreibe.«
    Ich hätte ihn rütteln mögen, ach was, windelweich hätte ich ihn am liebsten geschlagen, wenn er dadurch nur wieder zur Vernunft gekommen wäre. Aber ich tat natürlich nichts dergleichen. Ich zwang mich zu Geduld und Ruhe und sagte mir, dass sein Verhalten angesichts der Umstände wahrscheinlich normal war. Aus demselben Grund unterließ ich es auch, ihn über die Episode mit dem Mädchen auszufragen. Meine verspätete Eifersucht war völlig fehl am Platz, und weitere Fehltritte dieser Art würde Hannes sich so bald wohl nicht mehr leisten. Bei diesem Gedanken bekreuzigte ich mich, denn dass das Unglück, das Hannes erfahren hatte, meiner eigenen Beruhigung diente, empfand ich als schändlich.
    Ich schrieb tagelang an dem Brief an Hildegard. Jeden Abend, wenn ich draußen Obst gesammelt und Fische gefangen hatte, Hildchen gestillt, Wäsche gewaschen, das Vieh versorgt, Hildchen ins Bett gebracht, Essen gekocht und ein Tablett zu Hannes ans Bett gebracht hatte, setzte ich mich an den Tisch und verfasste einige Zeilen. Oft fielen mir darüber die Augen zu. Einen unschönen Tintenklecks hatte einer der Bögen bereits. Wie kostbar

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