Das Mädchen am Rio Paraíso
schuld, beklagte Teresa sich lautstark, sonst gar nichts! Dann hatte sie, weil ihr ja nichts anderes übriggeblieben war, den Sklaven João gebeten, das Geländer zu reparieren, aber der hatte andere, wichtigere Dinge vorgeschoben, die er zuerst erledigen müsse.
Und jetzt, am 1 . Juni 1827 , war es schließlich passiert: Sie, Teresa Almeida dos Santos, war die Treppe hinaufgestiegen, ihre Hand wegen ihres fortgeschrittenen Alters immer am Handlauf entlanggleitend – und nicht etwa daran rüttelnd, oh nein –, und hatte plötzlich gespürt, wie das Geländer sich aus seiner Verankerung löste. Gerade rechtzeitig hatte sie losgelassen, dann hatte der Teil des schmiedeeisernen Gebildes mit seinem Handlauf aus Rosenholz, an dem sie sich gerade festhielt, nachgegeben. Und weil sie so schnell hatte loslassen müssen, dazu noch der Schreck!, hatte sie das Gleichgewicht verloren und war ein paar Stufen hinabgestürzt.
Im Gegensatz zu dem Geländer. Das hing nun zwar an der Einbruchstelle etwas windschief über der Treppenkante, aber der Rest der Konstruktion gab dem beschädigten Teil genügend Halt, dass es sich nicht vollends löste. Teresa fühlte sich erbärmlich, wie sie da mit wehen Knochen auf der Treppe lag, sich kaum rühren konnte und zu allem Überfluss auch noch die Schmach ertragen musste, dass das vermaledeite Geländer, anders als von ihr prophezeit, gar nicht hinuntergekracht war.
Sie versuchte sich aufzurichten, gab ihr Vorhaben allerdings sofort wieder auf. Was für Schmerzen! Bestimmt hatte sie sich etwas gebrochen. In der halben Minute, die Teresa allein auf der Treppe lag und vor Schreck noch gar nicht um Hilfe gerufen hatte, gingen ihr zahllose Dinge durch den Kopf. Wer würde nun die
canjica
zubereiten, die ein Muss für eine echte
festa junina
war? Wer würde bei den Vorbereitungen zu dem morgigen Fest die Aufsicht über all die nichtsnutzigen Sklaven haben, die nur ihr eigenes Vergnügen im Auge hatten, mit Ablauf und Organisation einer solchen Veranstaltung jedoch hoffnungslos überfordert wären? Würde sie selber daran teilnehmen können, und sei es nur im Sitzen und mit geschientem Bein? Oder würde Senhor Raúl einen Doktor kommen lassen, der ihr wochenlange Bettruhe verordnen würde? Bloß das nicht!
Und was wäre mit der für Montag anberaumten Fahrt nach Porto Alegre? Wer würde Raúl und Klara begleiten? Wer würde die beiden zueinanderführen – unauffällig und behutsam, aber zielstrebig, wie es nun mal ihre, Teresas, Art war? Man konnte die zwei doch nicht allein fahren lassen!
»Tia Teresa!«, hörte sie da den Ruf eines jungen Sklavenmädchens, das sich durch besondere Anhänglichkeit wie unfassbare Dummheit gleichermaßen auszeichnete. »Um Gottes willen, was ist passiert?«
Teresa verdrehte die Augen und fragte sich, womit sie das verdient hatte.
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40
D er Tag begann alles andere als verheißungsvoll. Ein dünner, kalter Regen tröpfelte aus grauen Wolken, die bleiern über dem weiten Land hingen, und zwar so weit das Auge reichte. Es sah nach Landregen aus. Sie stand am Fenster und nahm den trübseligen Anblick in sich auf: die aufgeweichte Erde, die Pfützen, das Grau in Grau. Nicht gerade die idealen Bedingungen für ein Fest im Freien. Die Gäste würden in gedrückter Stimmung eintreffen. Sie würden sich schon beim Aussteigen aus ihren Kutschen die Schuhe ruinieren und sich Sorgen um ihre aufwendigen Frisuren machen. Die vornehmsten Familien der Umgebung waren geladen, und Klara fragte sich, wie sie diese bei Laune halten sollten. Vielleicht sollten sie die Feier nach drinnen verlagern? Bei diesem Dreckswetter würde man ja nicht einmal einen Hund nach draußen schicken.
Klaras eigene gespannte Erwartung, ihre Vorfreude auf die
festa junina,
war einer dumpfen Beklemmung gewichen – und einem diffusen Gefühl von Schuld. Sie fühlte sich mitverantwortlich für die Feier, und damit war sie auch irgendwie zuständig für das Wetter. Natürlich wusste sie, dass das Unfug war, dennoch blieb der Eindruck haften, versagt zu haben. Ach was!, rief sie sich zur Vernunft, wir werden uns schon eine Lösung einfallen lassen. Sie gab sich einen Ruck und begab sich lächelnd nach unten, in der Hoffnung, ihre aufgesetzte Fröhlichkeit könne einen Teil dazu beitragen, die Stimmung unter den Sklaven zu heben. Teresas Sturz hatte allenthalben große Betroffenheit ausgelöst, und nun kam auch noch das abscheuliche, nasskalte Wetter dazu. Klara war sich ganz sicher, dass die
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