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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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erste Hochzeit in der neuen Heimat!
    Unser Chor sollte bei der Trauung, die für Januar geplant war, singen. Aber ohne mich. Nicht, dass ich nicht gefragt worden wäre, ja, geradezu bekniet haben sie mich, dass ich mit meinem schönen Sopran das »Ave-Maria« vortragen sollte. Doch wie sollte ich das schaffen? Mit Kind, verkrüppeltem Mann, einem Haushalt, in dem es schon jetzt drunter und drüber ging, sowie einem Grundstück, das mittlerweile so verwildert war, dass man ohne Machete kaum durchkam – wo in aller Welt sollte ich noch die Zeit und Kraft zum Singen hernehmen? Die Enttäuschung schnitt mir tief ins Herz, tiefer als alle anderen Missgeschicke der jüngeren Zeit. Die Unstimmigkeiten in meiner Ehe, die schier unmenschliche Menge an Arbeit, die mitleidigen Blicke unserer Nachbarn, die mich ja für geistesgestört hielten, mit alldem konnte ich irgendwie zurechtkommen. Aber nicht mehr im Chor sein zu können, das setzte mir so sehr zu, dass ich kurz vor dem Zusammenbruch stand.
    Hannes indes ging es besser. Seit jener unseligen Nacht humpelte er munter auf seiner Krücke durchs Haus – wenn er denn zu Hause war. Meist fuhr er zum Bootsanleger, wo er auf dem Fuhrwerk sitzen bleiben konnte und dabei ganz wie der Alte wirkte. Er begrüßte die Neuankömmlinge, denn der Fluss an Auswanderern riss nicht ab. Im Gegenteil, es kamen immer mehr Leute, und der Anteil an Hunsrückern unter ihnen wuchs stetig. Hannes erzählte ihnen bereitwillig alles, was sie über den Beginn in der Kolonie wissen mussten. Meist spendierten die armen Leute, die nach der langen Reise ausnahmslos abgerissen und erschöpft waren, ihm dafür ein Gläschen ihres kostbaren Aufgesetzten, den sie von daheim mitgebracht hatten.
    Ich wusste das alles von Christel. Ich selber hatte ja keine Sekunde Zeit, um an solche Ausflüge auch nur zu denken. Manchmal nahm Hannes unsere Tochter mit, was mich nicht nur entlastete, sondern mir auch die Gewissheit verschaffte, dass er wenige Stunden später wiederkommen würde, spätestens dann nämlich, wenn Hildchen vor Hunger schrie. Meist jedoch blieb sie bei mir. Da ich sie nicht allein im Haus lassen konnte, zumal ich ja wusste, dass hier irgendwelche Indios ihr Unwesen trieben, nahm ich sie in ihrem Körbchen mit nach draußen. Ich legte immer ein leichtes Baumwolltuch über den Korb, damit sie vor der Sonne und vor Insekten verschont blieb. Umwickeln konnte ich sie mir nicht, weil es meine Bewegungsfähigkeit zu stark eingeschränkt hätte. Und bewegen musste ich mich: Den halben Tag kniete ich auf der Erde, um nach den ersten reifen Maniok- und anderen Wurzeln zu suchen, und die andere Zeit verbrachte ich bis zu den Oberschenkeln in dem Bach, um Jagd auf größere Fische zu machen. Meine Angst vor Schlangen, Krokodilen oder Raubfischen hatte sich mehr oder minder gelegt. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich sie erlegen konnte. Das Einzige, wovor ich mich wirklich ekelte, waren die Riesenegel, die sich an mir festbissen, wenn ich eine Weile im Wasser stand. Aber was blieb mir anderes übrig?
    Unser Land war innerhalb kürzester Zeit völlig verwildert. Die einzige Nutzpflanze, der das Unkraut und das Gestrüpp offenbar überhaupt nichts anhaben konnten, waren die
banana
-Stauden – zum Glück für uns, denn ohne diese Früchte wären wir wahrscheinlich kurz vor dem Verhungern gewesen. Um unser Haus war es ebenfalls nicht gut bestellt. Ohne Hannes’ Hilfe konnte ich mich nicht auch noch um undichte Stellen im Dach, verzogene Türen oder wacklige Stühle kümmern. Ich stellte Töpfe und Krüge unter die Lecks im Dach, alles andere nahm ich einfach so hin. Die Holzdielen waren schon länger nicht mehr ordentlich geschrubbt worden, die Wäsche wusch ich nur notdürftig im Bach. Flecken, die man hätte auskochen müssen, blieben als blassbraune Schatten zurück. Der Gesamteindruck muss der völliger Vernachlässigung gewesen sein, aber ich nahm das alles gar nicht mehr wahr. Wir hausten wie Elendsgestalten, und je ungepflegter es wurde, desto weniger Lust hatte Hannes natürlich, nach Hause zu kommen.
    Eines Abends kam er sehr spät von seiner Fahrt zum Anleger zurück. Er hatte eine Fahne.
    »Hier sieht es aus wie im Schweinestall!«, beschwerte er sich.
    »Tja, schön wäre es, wir hätten noch einen«, keifte ich zurück. Unseren Eber hatte Hannes verkauft. Von dem Geld hatte ich allerdings nicht viel gesehen.
    »Und du siehst kaum besser aus als ein Schwein«, fuhr er fort. »Hast du in letzter

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