Das Mädchen am Rio Paraíso
aber sie hätten es eilig.
Doch immer mehr Leute waren auf die Straße gerannt. Einige von ihnen hatte Klara noch nie gesehen. Das Wunder ihrer Rückkehr war das alles beherrschende Thema im Dorf, in dem sonst wenig Spannendes passierte. Niemand wollte sich die einmalige Gelegenheit entgehen lassen, zum Augenzeugen dieses historischen Moments zu werden.
»Ich fürchte, wir müssen die Fahrt auf morgen verschieben. Es wäre eigentlich ohnehin schon zu spät gewesen – ich schätze, auch hier in der Colônia ist das Fahren im Dunkeln nicht sehr ratsam.« Raúl sah Klara von der Seite an, ein wenig lauernd, wie ihr schien.
»Vielleicht hast du recht«, gab sie zu. »Die lassen mich hier jetzt nicht fort, bevor ich alles haarklein erzählt habe.«
Sie fügten sich in ihr Schicksal und lenkten den Wagen wieder zur Herberge. Die winzige Wirtsstube war nach wenigen Minuten zum Bersten voll mit Leuten, und Klara musste wieder und wieder die abenteuerliche Geschichte ihrer Rettung erzählen. Sie bekam gar nicht mit, dass Raúl früh den Raum verließ und auf sein Zimmer ging.
Der große Empfang, den man Klara bereitete, konnte ihn nicht von einem störenden Gedanken ablenken, der sich im Laufe des Nachmittags in seinem Kopf eingenistet hatte. Im Gegenteil, je mehr Leute Klara begrüßt und umarmt hatten, desto deutlicher war es geworden: Klara hieß nicht Klara. Nicht ein einziges Mal hatte er den Namen gehört, und trotz seiner Unkenntnis der fremden Sprache hielt Raúl sich für durchaus in der Lage, so weit zu abstrahieren, dass er »Klara« verstanden hätte, wenn es ausgesprochen worden wäre. Aber das war nicht der Fall gewesen.
Unruhig wälzte er sich in dem harten Bett. Vergeblich versuchte er, den Verdacht, den er endgültig abgestreift zu haben glaubte und der jetzt erneut in seinem Hirn herumspukte, zu entkräften. Bestimmt gab es eine logische Erklärung dafür. Vielleicht hatten die Leute sie alle beim Nachnamen genannt? Aber nein, da waren so viele offensichtlich engere Bekannte dabei gewesen, die würden Klara wohl kaum siezen.
Unten in der Wirtsstube ging es hoch her. Sein Zimmer lag nicht einmal direkt darüber, dennoch konnte er fast alles hören. Während Raúl allmählich doch die Augen zufielen, dachte er daran, dass Klara diesem jungen tölpelhaften Paar sowie der geschäftstüchtigen älteren Frau den umsatzstärksten Abend des Jahres bescherte. Doch dann war es die eine, entscheidende Frage, über der er schließlich einschlief: War er vielleicht doch nur einem brillanten Täuschungsmanöver aufgesessen?
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45
H ast du was mit ihm?«, fragte Hannes mich. Sein Ton war unheilvoll, drohend.
»Mit wem?« Ich wusste wirklich nicht, wen er meinte. Es war lächerlich. Wann hätte ich noch ein Verhältnis mit jemandem haben sollen? Und wer hätte mich gewollt, verlottert wie ich aussah?
»Tu doch nicht so scheinheilig, du Hure!« Er schlug ebenso plötzlich wie heftig zu.
»Aber ich weiß nicht, wovon du redest!«, schrie ich. »Hör endlich auf damit!«
»Du und dein Liebhaber, ihr seid gesehen worden, weißt du. Man hat mir genauestens beschrieben, wie du dich an ihn gedrängt hast, auf seinem Pferd.«
»Ach du liebe Güte, Hannes – der Friedhelm hat mich nur heimgebracht, weil es doch zu Fuß so weit ist.«
Er versetzte mir eine gemeine Ohrfeige, nach der mir die Ohren klingelten.
»So, und warum musste er dich überhaupt heimbringen? Wieso bist du am helllichten Tag unterwegs und nicht hier, wo du hingehörst?«
»Ich war beim Pfarrer, weil …«
»… du deine Sünden beichten musstest? Ihr habt euch das schön eingerichtet, ihr Katholischen, könnt tun und lassen, was ihr wollt, und hinterher geht ihr beichten, sagt ein paar Gebete, und alles ist wieder gut. Aber so leicht kommst du mir nicht davon, Klärchen.«
Ich wusste schon, was als Nächstes kommen würde. Ich gab mir gar nicht erst die Mühe, ihm zu antworten und zu versuchen, ihn von meiner Unschuld zu überzeugen. Hannes hatte getrunken und war in der Stimmung, seine Wut an mir auszulassen. Ganz gleich, was ich gesagt hätte, es wäre immer das Falsche gewesen. Das Einzige, was ich ihm hätte erzählen wollen und was ihn vielleicht von allzu brutalen Schlägen in den Bauch abgehalten hätte, war zugleich das, was ich in dieser Lage am wenigstens sagen konnte: dass ich wieder schwanger war.
Hannes hätte getobt und mir unterstellt, das sei das Ergebnis meines vermeintlichen Ehebruchs. Also hielt ich still. Im Grunde
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