Das Mädchen am Rio Paraíso
Blicken des Brasilianers abzulenken. Der Mann hatte sie durchschaut, mochte aber keine Szene machen. Das wiederum sprach für ihn, dachte sie. »So, na, dann kommt mal mit, es ist nicht weit, nur ein paar Schritte von der Kirche.«
Sie nahm auf dem Wagen Platz und dirigierte die Gruppe zu dem Haus, vor dem Antonia gerade Wäsche aufhängte. Die junge Frau hatte wieder einen dicken Bauch, mindestens achter Monat, schätzte Klara. Sie rechnete schnell nach – und kam zu dem Schluss, dass das junge Paar keine Zeit verloren hatte, gleich nach der Geburt des ersten Kindes das zweite zu machen. Wenn das in dem Tempo weiterging, hätte Antonia mit fünfunddreißig Jahren zwanzig Kinder, Jesus und Maria! Klara fragte sich, wieso sie gerade jetzt so idiotische Berechnungen anstellte, konnte den Gedanken aber nicht mehr zu Ende führen. Antonia, im ersten Moment des Erkennens starr vor Schreck, kam auf sie zugelaufen und herzte sie, als sei ihre verlorene Schwester zurückgekehrt.
»Klärchen! Ich fass es nicht!«
»Ich fass es selber kaum.«
»Oh, wie gut, dass du lebst und dass es dir gutgeht. Du siehst wunderbar aus!«
»Danke. Du aber auch.«
»Kommt rein in die gute Stube. Wollt ihr hier wohnen? Wir versuchen uns gerade als Herbergsleute, das hat euch die Marlies bestimmt schon erzählt. Aber wir sind derzeit nicht gerade voll ausgebucht, und ihr wohnt hier natürlich umsonst!«
Marlies, die dabeigestanden hatte, verdrehte die Augen.
So
würde das junge Glück nie zu etwas kommen.
Klara übersetzte für Raúl, der ihr ein verschwörerisches Zwinkern zuwarf. »Sag deiner Freundin, wir bezahlen den normalen Preis – nicht den, den die Alte uns genannt hat. Aber wir hätten gern die schönsten Zimmer, eine anständige Kammer für Joaninha, die beste Versorgung der Pferde und das schmackhafteste Essen für uns. Und den besten Wein, den sie auftreiben kann.«
»Herrje, Klärchen, hast du dieses Kauderwelsch etwa verstanden? Oje, oje, was ist dir bloß alles widerfahren? Du musst uns alles erzählen, lass keine Einzelheit aus!«
»Das tue ich beizeiten. Vorerst wollen wir nur etwas essen und uns frisch machen, dann will ich sofort zu Hildchen.« Klara erklärte Antonia weiterhin, was Raúl für Wünsche geäußert hatte, bevor sie sich diesem zuwendete und fragte: »Ist es dir recht, wenn wir nur schnell etwas essen und dann raus zu der Familie Gerhard fahren? Sie haben meine Tochter.«
»Natürlich.«
Unter dem nicht enden wollenden Geschnatter von Antonia wurden der Wagen entladen, die Zimmer bezogen, das Essen aufgetischt, der kostbarste – für Raúl noch eben so genießbare – Wein entkorkt, die wichtigsten Neuigkeiten ausgetauscht. Raúl beobachtete das ganze Gewusel mit einem unfreiwillig spöttischen Lächeln auf den Lippen, während Joaninha sich schier zu Tode ängstigte angesichts all dieser merkwürdig aussehenden Leute und der grässlichen Laute, die sie ausstießen. Sie hielt sich abseits des Geschehens und war froh, als man ihr eine eigene Kammer zuwies. Sie verließ sie bis zum nächsten Morgen nicht mehr. Was Senhor Raúl und Sinhá Klara unterdessen anstellten, war ihr völlig egal. Wenn sie brav waren, war ihre, Joaninhas, Gegenwart ja nicht vonnöten. Waren sie es nicht, würde Senhor Raúl sie bestimmt nicht bei Teresa anschwärzen. Verblüfft über die Logik dieser Überlegung, war Joaninha nur betrübt darüber, dass ihr das nicht schon vorher eingefallen war. Sie hätte sich viel »Arbeit« ersparen können.
Klara und Raúl nahmen den nunmehr leeren Wagen, um hinaus zur Baumschneis zu fahren. Sowohl Marlies als auch Antonia und Konrad hatten sie begleiten wollen, aber Klara hatte klipp und klar gesagt, dass sie diesen Wirbel um ihre Person nicht wünschte. Den würde es natürlich trotzdem geben, denn, das war Klara bewusst, die Sensation ihrer Wiederauferstehung hätte sich in Windeseile in São Leopoldo und der ganzen Colônia herumgesprochen. Wie schnell das bereits geschehen war, merkten Raúl und Klara, als sie den Wagen von dem Grundstück ihrer Gastgeber herunterlenkten.
»Klärchen Wagner, dem Himmel sei Dank, dass du noch lebst!«, rief Pauline Dernbacher, die Klara nur entfernt kannte.
»Ja, ist denn das die Möglichkeit?«, freute der Höhner-Heinz sich, den Klara nach der Transatlantikpassage nur noch ein- oder zweimal zu Gesicht bekommen hatte. Sie begrüßte ihn überschwenglich, erklärte rasch, was es mit ihrem Verschwinden auf sich hatte, und bat um Entschuldigung,
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