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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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würde er die Verwahrlosung immer noch auf äußere Ursachen zurückführen können.
    Der Rio dos Sinos floss voll und träge dahin. Weder war er zum reißenden Strom angeschwollen noch zu einem Rinnsal mit gefährlichen Untiefen eingetrocknet. Jetzt bot er die idealen Bedingungen für den schwimmenden Transport auch größerer und schwererer Güter, so dass Raúl, Klara und Joaninha mitsamt den Pferden und dem vollbeladenen Wagen problemlos die Fähre besteigen konnten. Joaninha bekreuzigte sich, weil sie in ihrem ganzen Leben noch nie einen Fluss per Fähre hatte überqueren müssen und der Tragkraft des Bootes nicht traute. Doch die Fahrt verlief so ruhig, dass selbst sie ihre Angst vergaß.
    Es befand sich außer ihnen nur eine fünfköpfige deutsche Familie an Bord, die sie neugierig anglotzte. Diese Leute waren ganz offensichtlich fasziniert von der Gegenwart einer echten Negersklavin, noch dazu einer, die sich, wie es schien, im Besitz eines südländisch aussehenden Mannes und seiner nordeuropäisch anmutenden Frau befand. Von einer solchen Konstellation hatten sie noch nie gehört.
    Klara spürte die unhöflichen Blicke in ihrem Rücken, doch sie hatte überhaupt keine Lust, diese Leute von ihrer Neugier zu erlösen. Sie unterhielt sich mit Raúl auf Portugiesisch und empfand einen kindischen Stolz auf ihre Sprachkenntnisse sowie darüber, dass sie den deutschen Einwanderern zumindest in dieser Hinsicht überlegen war. Albern, dachte sie, aber so war es nun einmal.
    »Du bist auf einmal so gesprächig. Sollte es etwas mit dieser Familie zu tun haben? Du wirst doch nicht etwa
angeben
wollen?«, raunte Raúl ihr zu. Klara fühlte sich ertappt, verriet sich aber immerhin nicht dadurch, dass sie errötete.
    »Doch, genau das will ich«, versetzte sie und brachte Raúl damit zum Lachen.
    »Richtig so. Zeig allen, was in dir steckt.«
    Klara bedachte ihn mit einem wehmütigen Lächeln. Allein für diese Worte hätte sie ihn küssen mögen. Niemand sonst auf der Welt hatte jemals erlaubt oder auch nur gewünscht, dass sie ihre Fähigkeiten und Begabungen zeigte oder weiterentwickelte. Man hatte ihr gestattet, gefällige Stickarbeiten auszuführen und ihre angenehme Stimme einem Chor zu leihen. Mehr nicht. Alle ihre anderen Talente waren unterdrückt worden. Über ihr phänomenales Gedächtnis hatten sich ihre Leute schon lustig gemacht, als sie noch ein Kind gewesen war, und ihre athletische Ader war erst gar nicht wahrgenommen worden. Außer von Raúl, der ihre schnellen Fortschritte beim Reiten bewundert und gelobt hatte. Ach, die ganze Welt hätte ihr offengestanden, wäre sie mit einem Mann wie Raúl verheiratet gewesen statt mit einem, der sie immerzu niedermachte!
    Raúl war hingerissen von ihrem versonnenen Gesichtsausdruck und wagte es nicht, sie aus ihrem Tagtraum zu reißen. Vor allem in seinem eigenen Interesse: Er wollte noch ein wenig länger in den Genuss dieses seltenen Anblicks kommen. Er betrachtete sie mit so offensichtlicher Verliebtheit, dass die anderen Passagiere peinlich berührt wegsahen. Er studierte voller Hingabe den Schwung ihrer Lippen, ergötzte sich an ihrer leicht nach oben gebogenen Nase mit dem feinen Bogen aus Sommersprossen und bestaunte den zarten Flaum auf ihren Wangen, der nur bei bestimmter Sonneneinstrahlung zu sehen war.
    Dann kehrte Klara plötzlich in die Wirklichkeit zurück und schaute ihn überrascht an. Sie fuhr sich mit der Hand über die Wange, als säße dort ein Insekt oder irgendetwas, was dort nicht hingehörte. Warum sonst hätte Raúl diese Stelle so intensiv angestarrt? Doch mitten in der Bewegung ergriff er ihre Hand und drückte sie nach unten. »Es ist nichts. Du hast nichts auf der Wange – nur sehr niedliche, feine, hellblonde Härchen. Die waren mir noch nie vorher aufgefallen.«
    »Oh«, sagte Klara und kam sich unglaublich töricht vor.
    Ihre Hand war in der von Raúl verblieben. Sie mochte sie nicht daraus lösen, und Raúl wollte es offenbar ebenso wenig. Händchenhaltend standen sie an der Reling, lauschten dem Platschen des Flusswassers an die Planken der Schaluppe sowie dem ausgelassenen Zwitschern und Trällern der Vögel und ignorierten weitgehend das unerschütterliche Räuspern Joaninhas. Raúl hatte Klara bereits darüber aufgeklärt, was es damit auf sich hatte, denn so gut kannte er seine Teresa.
    Es war eine äußerst friedliche Atmosphäre, doch Klara ließ sich davon nicht täuschen. In Kürze würden sie in São Leopoldo eintreffen,

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