Das Mädchen am Rio Paraíso
wo praktisch jeder jeden kannte. Bestimmt wären Leute am Kai, die auf Warenlieferungen warteten oder die Neuankömmlinge abholten, und mit Sicherheit war jemand dabei, der Klara kannte. Sie konnte sich das Staunen genau ausmalen, wenn sie, die Totgeglaubte, plötzlich in Fleisch und Blut vor ihnen stand, konnte sich die erschrockenen Ausrufe vorstellen und das ungläubige Begaffen ihres kleinen Grüppchens. Klaras Herz flatterte – sie hatte Lampenfieber.
Raúl entging Klaras Aufregung durchaus nicht, auch wenn sie nach außen gefasst wirkte. Er glaubte zu verstehen, was in ihr vorging, und das war einer der Hauptgründe dafür gewesen, dass er sie hierherbegleiten
musste.
Er konnte sie doch nicht ganz allein diesen Spießrutenlauf durchstehen lassen. Ganz gleich, wessen man sie verdächtigte oder wessen sie nachher noch schuldig gesprochen wurde, ganz gleich, ob es ein Unfall gewesen war oder ob wirklich sie ihren Mann erschlagen hatte – für ihn stand fest, dass Klara auf gar keinen Fall eine Mörderin war. Wenn überhaupt, hatte sie in Notwehr gehandelt. Und sie benötigte seinen, Raúls, Beistand jetzt mehr, als sie selber sich weiszumachen versuchte. Er drückte ihre Hand, bevor er sie losließ und zu dem Wagen ging. Sie legten an.
Es war noch übler, als Klara befürchtet hatte. Georg Hellrich stand am Anleger und bekreuzigte sich, als er sie sah, desgleichen Wolfgang Eiser, dem plötzlich wieder einfiel, dass er sie ja bereits gesehen hatte, vor Monaten in Porto Alegre. Damals hatte er seinen Augen nicht getraut, jetzt tat er es. Es war eindeutig Klärchen Wagner, die da, vornehm angezogen, mit rosigen Bäckchen und vor allem in hochinteressanter Begleitung, von der Fähre stieg. Ihm fiel die Kinnlade herunter. Einzig Marlies Holzappel bewahrte einen vergleichsweise kühlen Kopf: »Klärchen, bist du’s wirklich? Meine Güte, Mädchen, wo hast du bloß gesteckt? Wir dachten, du wärst tot! Gerade vor einem Monat haben wir dich zu Grabe getragen.«
Klara ging auf die ältere Frau zu, umfasste ihre beiden Hände und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Ja, ich bin’s. Ich hatte einen Unfall, und dieser Herr hier, der Senhor Raúl, hat mir das Leben gerettet. Es hat halt etwas länger gedauert, bis ich wieder so weit hergestellt war, dass ich die Reise hierher antreten konnte. Aber nun bin ich ja wieder da. Wissen Sie, wie es dem Hildchen geht? Wo steckt sie? Ist sie …«
»Beruhige dich, Klärchen. Dein Kind ist bei den Paten, wo sonst? Und nach allem, was ich höre, geht es deinem Hildchen blendend.« Sie legte einen Arm um Klara und fuhr nun ganz geschäftsmäßig fort: »Wisst ihr schon, wo ihr unterkommt? Ich meine, in deinem Haus, da wird es wohl nicht sehr, ähm, wohnlich sein, und bei den Gerhards ist viel zu wenig Platz für drei Gäste. Ich wüsste da nämlich etwas. Die Antonia, du weißt schon, geborene Schmidtbauer, die hat mit ihrem Mann, na ja, wenn man den Burschen, den Konrad, als Mann bezeichnen will, die beiden also haben eine Art Gästehaus eröffnet, hier im Dorf. Da wärt ihr gut untergebracht, auch der vornehme Herr und die Negerin, ohne dass es böses Gerede gibt. Na, wie findest du das?«
Klara hatte nie darüber nachgedacht, wo Joaninha und Raúl die Nacht verbringen sollten, da sie davon ausgegangen war, dass sie gleich wieder die Rückfahrt antreten würden. Aber jetzt sah sie ein, dass für eine Unterkunft gesorgt werden musste – es war zu spät, um die beiden zurückreisen zu lassen. Und wahrscheinlich war es für sie selber ebenfalls das Beste, sie schliefe vorerst hier. In ihr Haus mochte sie nicht, schon gar nicht ganz allein. Sie hätte natürlich auch bei den Gerhards bleiben können, denn zu ihnen wollte sie ohnehin als Erstes fahren, am liebsten jetzt gleich.
»Das klingt gut«, sagte sie zu Marlies Holzappel. »Was kostet denn da die Übernachtung?«
Marlies zögerte nicht lange, ihr den doppelten Satz des üblichen Preises zu nennen. Der reiche brasilianische Schnösel würde das schon verschmerzen können – und sie selber, Marlies, würde bestimmt etwas Vernünftigeres mit dem Geld anfangen als er. Sie war zu achtzig Prozent an der nagelneuen Herberge von Antonia und Konrad beteiligt.
Klara übersetzte Raúl den Vorschlag sowie den genannten Preis, und der erklärte sich, wenngleich widerstrebend, einverstanden.
»Meine Güte, Klärchen, Portugiesisch hast du auch gelernt!«, begeisterte Marlies sich, mehr um sich selber von den durchdringenden
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