Das Mädchen am Rio Paraíso
verstand selber nicht so genau, was in sie gefahren war, dass sie ihrem Mann nicht die Wahrheit gestand. Er würde zu ihr stehen. Aber nachdem sie den ganzen Abend zwischen all ihren Arbeiten immer wieder Hildchen hochgehoben hatte, musste ein Entschluss in ihr herangereift sein, dessen sie sich erst jetzt, da sie ihre Lügen aussprach, bewusst wurde. Das Kind hatte sie so herzerweichend angelächelt und ihren Finger umklammert – Christel wollte es nie wieder hergeben.
Franz blieb so sachlich, wie man es in einer solchen Lage nur sein konnte. »Im Dunkeln können wir wenig ausrichten. Lass uns heimfahren und Hildchen mitnehmen. Morgen kommen wir mit einem Suchtrupp zurück, vielleicht liegt Klärchen ja schwerverletzt im Wald.«
Und so nahmen sie das Mädchen, das mittlerweile friedlich schlummerte und von dem ganzen Unheil nichts mitbekam, setzten sich auf den Karren und holperten in der Düsternis einer schwülen, wolkenverhangenen Nacht heimwärts.
Das Gewitter brach nicht mehr los.
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54
E s war spät geworden. Dennoch beschlossen Klara und Raúl, dass sie lieber die in der Dunkelheit beschwerliche Fahrt nach São Leopoldo auf sich nehmen würden, als in Klaras Haus ein Nachtlager aufzuschlagen. Dort war es allzu unwohnlich und gespenstisch. Raúl hatte Joaninha die Zügel aus der Hand genommen und sie mit einem spröden Lob bedacht: »Hätte ja keiner von dir gedacht, dass du auch mal für etwas zu gebrauchen bist.« Die Sklavin war hocherfreut darüber und störte sich kein bisschen an der ruppigen Art ihres Dienstherrn. Sie kannte das schon von Teresa.
Hildchen saß eingequetscht zwischen Joaninha und Klara. Sie war die Einzige auf dem Wagen, die echte Freude an der rumpeligen Fahrt hatte. Sie genoss das Auf und Ab, wenn der Wagen über Steine rollte, und sie mochte den Duft des Waldes, der in den Abendstunden besonders intensiv war. Klara fragte sich, ob diese Fahrt ihre Tochter an die Ausflüge erinnerte, zu denen Hannes sie immer mitgenommen hatte, und wenn ja, ob es Hildchen bewusst war. War dem Kind überhaupt klar, dass sein Vater tot war? Dass sie seine Mutter war? Hatten Christel und Franz dem Mädchen gegenüber vielleicht so getan, als seien sie die Eltern? Aber nein, dann hätte Hildchen doch sicher einmal Papa oder Mama zu ihnen gesagt. Allerdings, grübelte Klara weiter, hatte ihre Tochter auch sie selber noch nicht Mama genannt. Das arme, arme Kind – es musste völlig verstört sein.
Diesen Eindruck erweckte Hildchen jedoch keineswegs. Sie war gut aufgelegt, lachte häufig und untersuchte mit Hingabe die schwarze Haut und die weißen Handinnenflächen von Joaninha, die diese Prozedur schmunzelnd über sich ergehen ließ. Klara war ein wenig eifersüchtig. Ihr wäre es lieber gewesen, ihre Tochter hätte sie so aufmerksam studiert.
Je näher sie der Herberge kamen, desto mehr verdüsterte sich Klaras Laune. Sie dachte an die vergangene Nacht – und wie schmählich Raúl sie in ihrem Zimmer zurückgelassen hatte. Ein paar geflüsterte liebevolle Worte und einige zärtliche Gesten hätten ihn doch nicht umgebracht, zumal der Schaden ja bereits angerichtet gewesen war. Sie fragte sich, wer sich da mit Klopfen über den Lärm beschwert haben mochte. Hatten noch andere zahlende Gäste in dem Haus übernachtet? Welche Zimmer lagen oben, unter dem Dach? Die der Dienstboten? Vielleicht hatte nur Joaninha sie gehört. Nein, die hätte es wohl kaum gewagt, sie auf den Lärm aufmerksam zu machen. Lebten da oben Antonia und Konrad? Klara hoffte es. Die beiden würden gewiss Verständnis für ein unverheiratetes Liebespaar haben, wie sie selber es ja vor nicht allzu langer Zeit noch gewesen waren. Dann wiederum hätten sie aber nicht geklopft. Oder war es nur ein dummer Zufall gewesen? Vielleicht war eine Katze auf dem Dachboden einer Maus nachgejagt und hatte dabei irgendetwas umgestoßen.
Raúl hing ähnlichen Gedanken nach. Himmel, das halbe Dorf musste sie gehört haben! Und jetzt hatte er vermutlich Klaras Ruf schwer beschädigt – nur weil er seine Triebe nicht unter Kontrolle hatte. Nun ja, Triebhaftigkeit allein war es ja nicht gewesen. Er hatte die Worte, die er ihr gestern zum Abschied gesagt hatte, ebenso ernst gemeint wie seinen Antrag. Schön, ihr schwebte vielleicht etwas Romantischeres vor, etwa, dass er sich vor ihr auf die Knie warf, ihr Rosen schenkte und sein Innerstes nach außen kehrte. Aber er war noch nie ein Mann gewesen, der sein Herz auf der Zunge trug. Und für
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